der Text zu einem Film von Mattias Caduff Einleitung Der Film "Blindnis" handelt in 24 kurzen Szenen vom "Sehen" und vom "Nichts-Sehen". Es geht jedoch weder um die Blindheit im medizinischen Sinne noch um die persönliche oder soziale Lage blinder Menschen. Mit "Blindnis" ist die schmerzhafte Erfahrung gemeint, die ein Sehender machen kann, wenn er versucht, "eigene" oder "wirkliche" Bilder von einer Welt zu machen, die er stolz "seine" Welt nennt. Er kann angesichts "seiner" Bilder in Verzweiflung geraten. Unverhofft sieht er sich umstellt von der fremden Künstlichkeit einer Bilderwelt, die sich um ihn herum wie ein Vorhang zugezogen hat. An diesem Punkt angelangt hat er die Erinnerung an eine unmittelbare Begegnung mit Welt vielleicht schon ganz verloren, sodass er sich nicht mehr sicher ist, ob es einen solchen Hautkontakt mit Leben überhaupt je gegeben hat. Was ihm nun in seinen Bildern, aber auch in seinen Worten begegnet, ist nicht Erlebnis und Staunen über das, was da ist. Er trifft stattdessen auf leere Strukturen, Grammatiken, Konventionen, trockene Formalismen, denen er auch dann nicht entrinnt, wenn er alles auf den Kopf stellt. Er sagt zu sich: "Ich bin blind. Die Art, in der ich in der Welt lebe, indem ich hinsehe und Bilder mache, hat mich von ihr getrennt." Er kommt auf den Gedanken, die Augen zu schliessen. Vielleicht hilft ihm das. Es verwirrt, dass hinter den geschlossenen Liedern wiederum Bilder und Worte auftauchen. Aus solchen Erfahrungen heraus ist dieser Film entstanden " für diejenigen, die sehen" (Denis Diderot). Köln, 6. Januar 1995 |
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1.Szene: Tunneleinfahrt
(Stille)
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2.Szene: Panorama
Ich erblickte das Licht der Welt im Schatten jener Häuser. Da unten wuchs ich auf. Ich lernte das Wort "Himmel", das Wort "Wolke", das Wort "Regen", der aus eben diesem "Himmel" herabfiel. Man sagte zu mir: "Das dort sind Berge." Auf ihnen lag mein erster Schnee. Ich sah den ersten echten Hirsch, den ersten richtigen Blitz und dort meinen See. Dies alles sah ich einst zum ersten Mal. Ich erinnere mich nicht.
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3.Szene: Mutteraugen
Ich fragte: "Worin liegt die besondere Bedeutung der Augen?" Jemand antwortete: "Die Augen der Mutter sind das erste wirkliche Bild des Säuglings. Nichts ist ihm so sichtbar wie ihre Augen."
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4.Szene: Fernseh-Maiteli
Ich filmte ein Mädchen. Es sah zur selben Zeit das Bild, das ich filmte, im Fernsehapparat. Ich sagte: "Du siehst Dich selbst!" Es nannt das, was es sah: "Fernseh-Maiteli". Ich nahm das Bild mit mir fort.
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5.Szene: Apfel-kein Apfel
Das Kleinkind glaubt, dass nur diejenigen Sachen existieren, die es auch tatsächlich sieht. Was aus seinen Augen verschwunden ist, hat aufgehört zu sein.
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6.Szene: Familienalbum
Familienbilder werden in Alben geklebt, auf Kommoden gestellt oder in Blechkisten verwahrt. "Das ist meine Mutter", könnte ich anmerken. Solche Bilder werden mit zärtlichen Blicken und Tränen bedacht. Manchmal wird bei ihrem Anblick gelacht. Seltener werden sie aus Wut zerrissen oder verbrannt. Sie können ihren Besitzern mehr bedeuten als alle Meisterwerke der Kunstgeschichte. Ein Fremder betrachtet sie mitunter wie Hieroglyphen.
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7.Szene: rote Frau in einiger Entfernung
Die Beurteilung von Entfernungen zum Beispiel sei keineswegs nur die Aufgabe der Augen. Durch lebenslange Erfahrungen, die mit allen Sinnen gesammlt und miteinader verknüpft werden, durch Hören, und Riechen, durch Tasten und Schmecken lerne der Mensch, die wirren Lichter auf der Netzhaut zu lesen. "Sehen" sei eine Art "Lesen". Es werde erlernt.
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8.Szene: lesen
Ich finde das "Lesen-Können" grundlegender als das "Schreiben-Können". Ich schreibe aufs Geratewohl. Danach erst versuche ich zu entschlüsseln, was ich eben schrieb. In allen Dingen solle man versuchen zu lesen, hörte ich sagen. In noch so unscheinbaren Sachen leuchte dem geübten Leser Sinn auf. Was er auch betrachte, spreche zu ihm. Nicht, dass die Figuren, die man auf diese Weise entdecke, von einem unbekannten Finger vorgezeichnet worden wären! Der Leser selbst schreibe - schauend - etwas in die Dinge hinein und führe - horchend - ein Zwiegespräch mit sich selbst.
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9.Szene: Aktzeichnen
Schulter Arm Wange Haar Nacken Ohr Schläfe Glied Brüste Kreuz Weiche Kopf Achsel Mund Daumen Scham Zunge Hoden Zahn Kehle Hand Nabel Faust Auge Lippe Kinn Jochbein Gurgel Bauch Scheitel Lende Knie Finger Stirn Busen Nase Rumpf Wimper Rücken Zeh Wade Hüfte Fuss Hals
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10.Szene: Skulptur
Als ich noch ein Kind war, gab es für mich einen feierlichen Augenblick. Das war, wenn ich Augen machte. Es gibt Skulpturen mit lebendigem Blick und andere mit totem Blick. Sind die Schöpfer des toten Blicks unfähig? Oder wollen manche von ihnen den Blick vermeiden? Weil, angeblickt zu werden, eine zu grosse Ehre wäre? Weil ein Blick erwidert werden könnte? Weil er etwas auslöst, Furcht zum Beispiel? Wie wird der Blick gemacht? Nicht wie ein Tisch oder ein Kühlschrank! Man muss ihm ein Nest bauen wie einem scheuen Vogel, in dem er sich niederlassen mag.
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11.Szene: Balken vor den Augen
(Stille)
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12.Szene: vier Blinde
Bildermachen von blinden Menschen: Ich suchte in ihren Gesichtern und Worten etwas ganz Besonderes, etwas, das nur Blinden zugänglich ist. Ich erwartete, eine Art von blinder Hellsichtigkeit zu finden. Sie haben sich dagegen gewehrt. Sie warnten mich vor den Klischees: Blindenstock, Blindenschrift, Armbinde, "Arme Blinde!", Blindenhund. Ich betrachtete ihre Gesichter, die porige Haut, den Speichel um die Mundwinkel, die gelblichen Ablagerungen in der Nase. Ich schämte mich zu schauen. Indem ich hinsah, begriff ich nichts von ihrer Blindheit.
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13.Szene: der Affe
(Stille)
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14.Szene: Tunneldurchfahrt
Jeden Sommer fuhren wir ins Gebirge. Die Strasse führte durch einen Tunnel. Wir spielten immer das gleiche Spiel: Kurz vor Eintritt in die Dunkelheit holten wir tief Luft und versuchten den Atem so lange anzuhalten, bis es wieder hell wurde. Einmal hörten wir im Radio, dass eine ganze Familie in diesem Tunnel tödlich verunglückt sei. In den Trümmern ihres Autos habe man rote Kirschen gefunden. Es wurde vermutet, dass die Mutter,die am Steuer gesessen habe, ihren Kindern eine Tüte mit Kirschen nach hinten zu reichen versuchte, dabei auf die rechte Fahrbahn geriet und dort mit einem entgegenkommenden Fahrzeug frontal zusammenprallte. Mein Vater bekam Angst, wenn wir den Tunnel erreichten. Er ermahnte uns, still zu sein. Wir hielten die Luft an.
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15.Szene: Zentralperspektive
Es gebe da an einem See den bolzengeradesten Weg, gehegt und gepflegt, der sobald nicht ende.
Es stehe da in einem Park ein Spalier von Bäumen, die, sauber gestutzt, sich für jedermann regelrecht reckten.
Es fliesse da in einem Tal ein schlammiger Fluss mit Säulen und Dach, das einigen Vögeln als Unterschlupf diene.
Es sitze da auf einem Tor ein steinerner Engel vor steinernem Haus, in welchem sie Tote zu Asche verbrennten.
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16.Szene: das Molyneux-Problem
Ich möchte hier ein Problem des gelehrten Herrn Molyneux einschalten. Es handelt sich um folgendes: Denken wir uns einen Blindgeborenen, der jetzt erwachsen ist und mit dem Tastsinn zwischen einem Würfel und einer Kugel von gleichem Metall und annähernd gleicher Grösse hat unterscheiden lernen, so dass er bei Berührung der beiden Gegenstände zu sagen vermag, welches der Würfel und welches die Kugel sei. Nehmen wir weiter an, Würfel und Kugel würden auf einen Tisch gestellt und der Blinde würde sehend, so fragt es sich nun, ob er nur durch den Gesichtssinn, schon vor der Berührung der Gegenstände, Kugel und Würfel unterscheidet und angeben könnte, welches die Kugel und welches der Würfel sei. Der scharfsinnige Fragesteller beantwortet die Frage mit nein. "Denn", so sagt er, "wenn auch jener Mann erfahrungsgemäss weiss, wie Kugel und Würfel auf seinen Tastsinn einwirken, so hat er doch noch nicht die Erfahrung gemacht, dass dasjenige, was auf seinen Tastsinn so oder so einwirkt, auf seinen Gesichtssinn so oder so wirken muss, oder dass ein vorspringender Winkel des Würfels, der auf seine Hand einen ungleichmässigen Druck ausgeübt hat, dem Auge sich so darstellen wird, wie das beim Würfel geschieht.
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17.Szene: Unschärfe
(Stille)
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18.Szene: Sonnen
Einmal erwachte ich früh. Es war kalt. Eine matte Eissonne ging auf. Ich starrte sie lange Zeit an und fror. Plötzlich fühlte ich ihre Strahlen auf der Haut.
Auf einer Insel im Meer lebte ein Volk, das jeden Morgen die Sonne mit Freudesgeschrei begrüsste. Während der Nacht schlief es in der Furcht, die Sonne könnte nicht mehr erscheinen.
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19.Szene: Diderot´s Baum
Experimentelle Prüfung der Art und Weise, wie im Auge die Empfindung des Baumes entsteht: Das Gesichtsfeld des Auges erfasst einen Teil des Baumes. Will man genau prüfen, was im Verstande geschieht, wenn man den Baum im ganzen wahrnehmen will, so muss man in seinem Inneren so vorgehen, wie man ausserhalb vorgegangen ist: nämlich in mehr oder weniger ausgedehnten Feldern, die aneinandergrenzen und die man schnell überblickt. Man muss es so anfangen: Man sehe den Gegenstand an, erfasse ein Feld von ihm, das Gesichtsfeld, und gehe vom unteren Ende, von den Wurzeln, Feld für Feld bis zur Spitze, verbinde mit den einzelnen Teilen, die sehr verschiedene Formen zeigen, die Wörter: "Geflecht", "Wurzeln", "Stamm", "Rinde", "Zweige", "Stiele", "Blätter", "Blattrippen", "Blüten", und "Früchte", schliesslich das Wort: "Baum", das ja das Ganze umfasst, und spreche dieses Wort mehrere Male aus: Baum, Baum, Baum.
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20.Szene: der Blindensturz von Pieter Bruegel
Ein Bild von Pieter Bruegel: Blinde schwanken schweigend aus dem Dorf, hören Füsse schlurfen, Bienen summen, riechen Laub vermodern, Feuer schwelen, Lilien duften, stürzen, ertrinken im schwarzen Moor.
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21.Szene: Kunstlicht
Ich sehe mich, in Neapel, willenlos bei schwüler Hitze, mit einem weissgekleideten Mann, der auf der Strasse mich anspricht, in ein Auto steigen, mich dort wie ein Stück Vieh auf eine Bahre legen, um Blut zu spenden per i bambini.
Ich sehe mich im Morgengrauen durch zerstörte Landschaft auf den Vesuv fahren, seine schwarzen Halden zum Kraterrand emporsteigen, oben Nebel antreffen, einen Kiosk, zwei Leute, warmen Regen, keine Sicht.
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22.Szene: der Regen
leise tröpfelnd lustig klatschend munter prasselnd trommelnd zischend heftig spritzend gurgelnd laut
auf Strassen in Wäldern auf Glatzen und Katzen durch Mäntel in Pfützen auf Hüte in Suppen durch Dächer auf Leute vor Fenstern ins Haar
und stürmen und donnern und winden und krachen und tosen und klopfen und rauschen und murmeln und plätschern und tröpfeln und gluggern und plubbern
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23.Szene: Händewaschen
(Stille)
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24.Szene: Tunnelausfahrt
(Stille)
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Zitate:
Szene 10: Skulptur "Als ich noch ein Kind war, das Männchen in seine Hefte zeichnet, gab es für mich einen feierlichen Augenblick. Das war, wenn ich meinen Männchen Augen machte. Und was für Augen! Ich spürte, dass ich ihnen Leben verlieh, und ich spürte das Leben, das ich ihnen verlieh. Mir war zumute wie Ihm, der über den Erdklumpen hinhaucht." Paul Valéry: "Cahiers" (1894-1914) übersetzt von Mattias Caduff Szene 16: Molyneux-Problem John Locke: "Über den menschlichen Verstand" Buch II,Kapitel IX ("Über die Wahrnehmung"), §8 Neubearbeitung der Übersetzung von Carl Winkler, Hamburg 1968 Szene 19 Diderots Baum Denis Diderot: "Elemente der Physiologie" (1774-1780) unveröffentlicht aus Diderot's "Philosophischen Schriften" hrg. von Th. Lücke Westberlin 1984
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