Gespräch im Gebirg - Bericht eines Lesers

ein Film von Mattias Caduff

nach einer Erzählung von Paul Celan (© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main)


1.Akt

Vorhang zuziehen

Titel

Frisieren im Bad

Eines Tages, ich hatte gerade nichts zu tun, begann ich eine kleine Geschichte zu lesen. Ich las und verstand nicht recht, was ich las. Das war ärgerlich! - Ich las die Geschichte ein zweites Mal. Es half nichts.

Leser am Tisch von hinten

Seither verbringt er seine Zeit mit jener Geschichte. Alles, was man über sie schreibt, verschlingt er: Harte Kost! Jedem Hinweis rennt er nach. Von Ost nach West, durch halb Europa reist er - nur wegen ihr.

Kristall-Szene 1

Auch heute, wie jeden Tag, lese ich diese widerspenstige Geschichte:

Schreibender Leser

GESPRÄCH IM GEBIRG

Eines Abends, die Sonne, und nicht nur sie, war untergegangen, da ging, trat aus seinem Häusel und ging der Jud, der Jud und Sohn eines Juden, und mit ihm ging sein Name, der unaussprechliche, ging und kam, kam dahergezockelt, ließ sich hören, kam am Stock, kam über den Stein, hörst du mich, du hörst mich, ich bins, ich, ich und der, den du hörst, zu hören vermeinst, ich und der andre, - er ging also, das war zu hören, ging eines Abends, da einiges untergegangen war, ging unterm Gewölk, ging im Schatten, dem eignen und dem fremden - denn der Jud, du weißts, was hat er schon, das ihm auch wirklich gehört, das nicht geborgt wär, ausgeliehen und nicht zurückgegeben -, da ging er also und kam, kam daher auf der Straße, der schönen, der unvergleichlichen, ging, wie Lenz, durchs Gebirg, er, den man hatte wohnen lassen unten, wo er hingehört, in den Niederungen, er, der Jud, kam und kam. 1)

Katastrophe: eine Kerze wird unter einem Glas erstickt

Die Geschichte beginnt wie ein Märchen - und stockt! Nicht nur eine Sonne war mir untergegangen. 2) Am Anfang steht diskret ein doppelter Untergang. Er befiehlt: Hau ab!

Schuhe binden

Ganz unten. Ein Haus. Eine Gestalt tritt auf - sie hat nichts - und geht.- Ein Name geht - unerhört - mit.

Aufbruch, Gehen

Gehen, Tafel: Antschel > Ançel > Celan

Nimm einen Namen. Schreib ihn auf Rumänisch, zum Beispiel. Zerschlage das Wort und setze die Trümmer anders zusammen. Ergänze P, a, u, l.

Gehen, Abbildungen des Ewigen Juden

1602 erschien in Deutschland eine Broschüre, die ein Bestseller werden sollte: Als Christus auf seinem Kreuzweg - schrieb ein gewisser Herr Westphal - am Haus des Juden Ahasver vorüberkam und sich etwas ausruhen wollte, rief der Jud: "Hau ab!" - Da sah ihn Jesus an und sprach: "Ich will stehen und ruhen. Du aber sollst gehen." - Ahasver verließ sein Haus, Weib und Kind, lief um die Erde, ging -

und kommt durch alle Zeiten hindurch bis auf den heutigen Tag. 3)

Gehen, Steintal (Video)

Einen andern, denselben Läuffer beschrieb Georg Büchner: Den 20.Jänner ging Lenz durchs Gebirg...es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine...Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf... riss es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen...er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat.

Gehen, Bettgebirg

...Es war gegen Abend ruhiger geworden ... alles so still ... Es wurde ihm entsetzlich einsam; er war allein, ganz allein. Er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu atmen ... Es fasste ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts: er war im Leeren! 4)

Gehender Leser

Kam, ja, auf der Straße daher, der schönen. Und wer, denkst du, kam ihm entgegen? Entgegen kam ihm sein Vetter, sein Vetter und Geschwisterkind, der um ein Viertel Judenleben ältre, groß kam er daher, kam, auch er, in dem Schatten, dem geborgten - denn welcher, so frag und frag ich, kommt, da Gott ihn hat einen Juden sein lassen, daher mit Eignem? -, kam, kam groß, kam dem andern entgegen, Groß kam auf Klein zu und Klein, der Jude, hieß seinen Stock schweigen vor dem Stock des Juden Groß. So schwieg auch der Stein, und es war still im Gebirg, wo sie gingen, der und jener. 1)

Straße

Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen,

steigen dem Gipfelkreuz zu,

in unsern Herzen brennt eine Sehnsucht,

die lässt uns nimmermehr Ruh.

Herrliche Berge, sonnige Höhen,

Bergvagabunden sind wir, ja wir.

Herrliche Berge, sonnige Höhen,

Bergvagabunden sind wir. 5)

Kommen

Zum Glück tritt eine zweite Gestalt auf! Sie widersprechen sich, ihre Wege; sie stoßen sich gerade vor den Kopf: 6) Zwei Exemplare von derselben Sorte! Vagabunden und Gauner. Sie verdienen keine Namen. Wie lautet ihr Signalement? - Der eine ist groß, der andere klein.

Sils-Maria (Video):

Gästebuch mit dem folgendem Eintrag :1959, Ankunft: 22.Juli, Paul Celan

Im Juli verlässt Paul Celan die stickige Stadt Paris und fährt mit seiner Frau Gisèle und seinem vierjährigen Sohn Eric nach Sils-Maria, ins schöne Engadin. Sie logieren preiswert - in der Pensiun Chasté. - Im Grand-Hotel Waldhaus oberhalb des Dorfes wird derweil ein Professor aus Frankfurt erwartet. Seit einigen Jahren schon verbringt er hier - auf Empfehlung von Thomas Mann - seine Sommerfrische. - Der Hotelier gewährt keinen Einblick ins Fremdenbuch.

Tafel: Theodor W. (iesengrund) Adorno

Foto von Adorno

1949 schrieb er: Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. 7)

Fotos von Paul Celan

Paul Celan würde gerne Herrn Adorno treffen. - Peter Szondi, ein gemeinsamer Freund, organisierte deshalb ein Treffen ins Sils.

Schattenzeichnung an der Wand

Begegnung mit Spiegelbild

Hand des Lesers auf Buch

Still wars also, still dort oben im Gebirg. Nicht lang wars still, denn wenn der Jud daherkommt und begegnet einem zweiten, dann ists bald vorbei mit dem Schweigen, auch im Gebirg. Denn der Jud und die Natur das ist zweierlei, immer noch, auch heute, auch hier. Da stehn sie also, die Geschwisterkinder, links blüht der Türkenbund, blüht wild, blüht wie nirgends, und rechts, da steht die Rapunzel, und Dianthus superbus, die Prachtnelke, steht nicht weit davon. Aber sie, die Geschwisterkinder, sie haben, Gott sei's geklagt, keine Augen. Genauer: sie haben, auch sie, Augen, aber da hängt ein Schleier davor, nicht davor, nein, dahinter, ein beweglicher Schleier; kaum tritt ein Bild ein, so bleibts hängen im Geweb, und schon ist ein Faden zur Stelle, der sich da spinnt, sich herumspinnt ums Bild, ein Schleierfaden; spinnt sich ums Bild herum und zeugt ein Kind mit ihm, halb Bild und halb Schleier. Armer Türkenbund, arme Rapunzel! 1)

Folie vor Lampe

Mit einem Satz springt die Geschichte in die Gegenwart.

Samen des Türkenbunds auf Tisch

Schau! Der Türkenbund, Lilium mártagon, perigonblättrig, hell-braunrot, dunkel gefleckt. Wild leuchtet sein Turban.

Samen der Rapunzel auf Tisch

Schau! Die Rapunzel, Phyteuma orbiculare, in Magerwiesen verwurzelt, kleiner, zarter, märchenhaft wie Baldrian - Vorsicht! Sie wird auch Teufelkralle genannt.

Sils-Maria, Blumen (Video)

Es ereignet sich im Heumonat, zur Blütezeit: Unterländer wandeln ihrer Wege, entdecken plötzlich die Wildnis und folgen den schwärmenden Bienen, von Blume zu Blume. - Vor dem Krieg sammelte der Student Paul Antschel gewissenhaft die Namen der Blumen in deutscher, rumänischer, englischer, französischer und russischer Sprache. - Was blüht denn da?

Samen der Prachtnelke auf Tisch

Die Prachnelke, Dianthus superbus, wohlriechend, zerschlitzt, schuldlos, in den Nagel verschmälert, bleichrosa bis purpurn.

Sils-Maria, Blumen (Video)

Pflanzen sind ansprechbar! Lustvoll werden sie benannt! Ein Paradies ist -

Alle drei Blumensamen auf Tisch

Halt! Kein Wort mehr! Aus dem Abgrund taucht Lenz wieder auf:

Es war ihm dann, als existiere er allein, als bestünde die Welt nur in seiner Einbildung, als sei nichts, als er. 8)

Schleierkamera, Sprachgitter einer Synagoge in Bukarest

Die Juden stehen getrennt in der Welt. 9) - Dennoch, deshalb schickt die Blume ihnen etwas entgegen. Eine Blumenspur, ihr Bild. - Es verfängt sich im Schleier. Eine hungrige Spinne reißt schon ihr Maul auf! - Nein, sie tuts nicht! - Sie paart sich mit dem Blumenrest. Ihr Kind, ein Mischling, bringt den Blinden das untrügliche Zeugnis: Die Blume ist kein Hirngespinst! Sie gibt es, wirklich! - Während des Zweiten Weltkriegs schrieb Adorno im Exil: Zwischen innen und außen, klafft ein Abgrund, den das Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muss. Um das Ding zu spiegeln, wie es ist, muss das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält. Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurücklässt. 10)

 

2.Akt

Leser mit Balken vor den Augen, Buchstabennudeln

Da stehn sie, die Geschwisterkinder, auf einer Straße stehn sie im Gebirg, es schweigt der Stock, es schweigt der Stein, und das Schweigen ist kein Schweigen, kein Wort ist da verstummt und kein Satz, eine Pause ists bloß, eine Wortlücke ists, eine Leerstelle ists, du siehst alle Silben umherstehn; Zunge sind sie und Mund, diese beiden wie zuvor, und in den Augen hängt ihnen der Schleier, und ihr, ihr armen, ihr steht nicht und blüht nicht, ihr seid nicht vorhanden, und der Juli ist kein Juli. 1)

Kochen einer Suppe, Essen

Das Kind, ein halbes Glück immerhin, ist geboren - und stirbt sogleich. Denn die Stille, in der es lebt, währt nur einen Augenblick. Zurück bleibt:

Ein Wort - du weißt: / eine Leiche. 11)

Fensterlose Gebilde 12), gepanzert gegen allen Reiz, Sprech-Werk-Zeugs auf zwei Beinen sind die Juden, sonst nichts. Am Laufmeter machen sie Worte. - Und ich? - Ich lese die Worte auf, Stück für Stück, zum Beispiel das Wort JUD, dreh es um und um, sprich es aus - und hänge schnell ein E an.

Ein Lesegerät bin ich, sonst nichts.

Schattenfiguren bauen

Wen Gott einen Juden hat sein lassen, der hat nichts Eignes. Sein Wesen erschöpft sich im rastlosen Gehen. Die Natur ist ihm fremd. Ein blindes, ohnmächtiges Kunst-Stück ist er. - Adorno würde vielleicht sagen: Nichts Eigenes hat der heutige Mensch. Sein Wesen erschöpft sich im Funktionieren. Die äußre und innre Natur ist im fremd. Aber: Er weiß es nicht! Blindlings projiziert er deshalb sein Unglück auf die Juden - zum Beispiel. Und bekämpft im Wahn sein eigenes Unglück, indem er sie auslöscht. 13)

Kristall -Szene 2

Redende Schattenfiguren

Die Geschwätzigen! Haben sich auch jetzt, da die Zunge blöd gegen die Zähne stößt und die Lippe sich nicht ründet, etwas zu sagen! Gut, lass sie reden ...

"Bist gekommen von weit, bist gekommen hierher ..."

"Bin ich. Bin ich gekommen wie du."

"Weiß ich."

"Weißt du. ..." 1)

Postkarten an der Wand befestigen

Leser in Badewanne

"... Weißt du und siehst: Es hat sich die Erde gefaltet hier oben, hat sich gefaltet einmal und zweimal und dreimal, und hat sich aufgetan in der Mitte, und in der Mitte steht ein Wasser, und das Wasser ist grün, und das Grüne ist weiß, und das Weiße kommt von noch weiter oben, kommt von den Gletschern, man könnte, aber man solls nicht, sagen, das ist die Sprache, die hier gilt, das Grüne mit dem Weißen drin, eine Sprache, nicht für dich und nicht für mich - denn, frag ich, für wen ist sie denn gedacht, die Erde, nicht für dich, sag ich, ist sie gedacht, und nicht für mich -, eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sie, und nichts als das.´ 1)

Silser-See (Video)

Faltung der T-Shirts

Vor 440 Millionen Jahren begann die Faltung der Alpen. Aus dem Urmeer, der Tethys, wölbte sich die Erde in drei gewaltigen Schüben empor. Das Unterste wurde zum Obersten, der Horizont zum Abgrund. Wasser, Wind und Eis zersprengen indes das Gestein zu Sand und spülen die Teilchen ins Meer zurück. - Ein gigantischer Mixer ist das Gebirg. Es wälzt die Spuren aller Zeiten um und um.

Aber ist nicht auch diese Geschichte ein Art Gebirg?

Grüne Farbe in die Badewanne

Sils-Maria: Schwenk vom See ins Gebirg (Video)

Weiße Farbe in die Badewanne

Links und rechts blühen die Blumen. Unten aber steht das Wasser. Und oben das Eis. In der Leere dazwischen, halb flüssig, halb fest, halb hell und halb dunkel, halb oben, halb unten stehen die Juden.

Morteratschgletscher

Im Juli, wenn das Eis schmilzt, schweben in den Bächen feinste Gesteinspartikel zu Tal, die der Gletscher vom Felsgrund abgerieben hat. Diese Gletschertrübe färbt das Wasser weißlich. Man nennt das auch Gletschermilch. - Alles strömt hier oben, rieselt und fällt, türmt sich, dampft und gefriert.

Weisse Farbe in die Badewanne

Auffaltung der T-Shirts zu einem Gebirg

Unendlich zahlreich sind die Formen, zu denen Atome sich zusammenschließen. Unendlich - und einmalig - wie die Geschichten, zu denen die Buchstaben zusammentreten. - Un-ausgesprochen, un-gesprächig, un-erhört sei die Sprache des Gebirgs. - Und mitten drin schwätzen die Juden!

Redende Schattenfiguren

"Versteh ich, versteh ich. Bin ja gekommen von weit, bin ja gekommen wie du."

"Weiß ich."

"Weißt du und willst mich fragen: Und bist gekommen trotzdem, bist, trotzdem gekommen hierher - warum und wozu?"

"Warum und wozu... Weil ich hab reden müssen vielleicht, zu mir oder zu dir, reden hab müssen mit dem Mund und mit der Zunge und nicht nur mit dem Stock. Denn zu wem redet er, der Stock? Er redet zum Stein, und der Stein, zu wem redet der?" 1)

Stein hinsetzen

Großaufnahme Mund, beleuchtet von links

"Zu wem, Geschwisterkind, soll er reden? Er redet nicht, er spricht, und wer spricht, Geschwisterkind, der redet zu niemand, der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand, und dann sagt er, er und nicht sein Mund und nicht seine Zunge, sagt er und nur er: Hörst du?" 1)

Stethoskop, Hammer, Tafel: 'niemand>Niemand'

Ich rede und rede. - Der Stein aber schweigt. Das Schweigen ist seine Sprache. Er redet nicht über etwas, wie ich. Er spricht ohne Absicht - sich selbst - ins All hinaus.- Da verwandelt sich in der Geschichte das Wörtchen 'niemand'. Es wird ein Name. - Durch diese List ist das Nichts plötzlich ansprechbar. Die Leere füllt sich mit einem, der zuhört. - Der Stein aber stellt endlos seine Frage.

Großaufnahme Mund , beleuchtet von rechts

"Hörst du, sagt er - ich weiß, Geschwisterkind, ich weiß... Hörst du, sagt er, ich bin da. Ich bin da, ich bin hier, ich bin gekommen. Gekommen mit dem Stock, ich und kein andrer, ich und nicht er, ich mit meiner Stunde, der unverdienten, ich, den's getroffen hat, ich, den's nicht getroffen hat, ich mit dem Gedächtnis, ich, der Gedächtnisschwache, ich, ich, ich ..." 1)

Schrift auf der Wand, Steintal (Video)

Hören Sie denn nichts? - Nein! Ich will nichts hören! Ich muss schwätzen und kann nur endlos sagen: Ich. Ich bin da! - Büchner's Lenz hingegen hat riesige Ohren: Hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt? 14)

Großaufnahme Mund , beleuchtet von links

"Sagt er, sagt er ... Hörst du, sagt er ... Und Hörstdu, gewiss, Hörstdu, der sagt nichts, der antwortet nicht, denn Hörstdu, das ist der mit den Gletschern, der, der sich gefaltet hat, dreimal, und nicht für die Menschen ... Der Grün-und-Weiße dort, der mit dem Türkenbund, der mit der Rapunzel ..." 1)

Tafel : hörst du > Hörstdu

Ich weiß nie recht, wer von beiden gerade spricht. Ich glaube, es ist Jude Klein, der den Stein wie einen schreienden Säugling zu trösten versucht: Er leiht dem Ding seine Stimme und gibt ihm einen Namen: Liebster Stein, der du 'Hörst du?' fragst und deshalb 'Hörstdu' heißen sollst - kannst du mich hören? - Der Stein aber schweigt.

Stein, Papierschatten

1958 sagte Paul Celan anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises: Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem - gewiss nicht immer hoffnungsstarken - Glauben, sie könne irgendwo, irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. 15)

Kristall -Szene 3

Schrift auf der Wand: ich, ich, ich, ...

"... Aber ich, Geschwisterkind, ich, der ich da steh, auf dieser Straße hier, auf die ich nicht hingehör, heute, jetzt, da sie untergegangen ist, sie und ihr Licht, ich hier mit dem Schatten, dem eignen und dem fremden, ich - ..." 1)

Vorbereitung des Walkman

Jude Klein versucht, nicht mehr zu reden, sondern zu sprechen - wie der Stein. Er versucht, all das zu sagen, was - an ihm selbst - heute - sagbar ist. Er sucht seinen eigenen Namen. Dazu steigt er in die Vergangenheit hinab:

Tonband mit der Stimme Paul Celans auf Bett

"... ich, der ich dir sagen kann:

- Auf dem Stein bin ich gelegen, damals, du weißt, auf den Steinfliesen; und neben mir, da sind sie gelegen, die andern, die wie ich waren, die andern, die anders als ich waren und genauso, die Geschwisterkinder; und sie lagen da und schliefen, schliefen und schliefen nicht, und sie träumten und träumten nicht, und sie liebten mich nicht und ich liebte sie nicht, denn ich war einer und wer will Einen lieben, und sie waren viele, mehr noch als da herumlagen um mich, und wer will alle lieben können, und, ich verschweigs dir nicht, ich liebte sie nicht, sie, die mich nicht lieben konnten, ich liebte die Kerze, die da brannte, links im Winkel, ich liebte sie, weil sie herunterbrannte, nicht weil sie herunterbrannte, denn sie, das war ja seine Kerze, die Kerze, die er, der Vater unserer Mütter, angezündet hatte, weil an jenem Abend ein Tag begann, ein bestimmter, ein Tag, der der siebte war, der siebte, auf den der erste folgen sollte, der siebte und nicht der letzte, ich liebte, Geschwisterkind, nicht sie, ich liebte ihr Herunterbrennen, und, weißt du, ich habe nichts mehr geliebt seither;

nichts, nein; oder vielleicht das, was da herunterbrannte wie jene Kerze an jenem Tag, am siebten und nicht am letzten; nicht am letzten, nein, ..." 1)

 

3.Akt

Czérnowitz, der Fluss, die Stadt, das alte jüdische Viertel (Video)

5.Juli 1941 - Die Rote Armee, die Czérnowitz ein Jahr lang besetzt hat, sprengt die Brücken über den Pruth und zieht sich nordostwärts zurück. Im Hotel Zum Schwarzen Adler wechseln die Gäste. Rumänische Truppen kehren in die Stadt zurück, begleitet von ihren Verbündeten, den Deutschen. Die Juden der Stadt sind sofort vogelfrei. Der große Tempel brennt. Wie in Deutschland werden Judengesetze erlassen: Ausgehverbot, Enteignung, Berufsverbot, Zwangsarbeit. Am 30.Juli wird das Tragen des Judensterns zur Pflicht. Unten beim Herzl Platz entsteht ein Ghetto. Die Deportation der Juden beginnt. - Die Stadt sei ohne Juden nicht lebensfähig. Einige dürfen bleiben. Darunter auch die Familie Antschel.

Czérnowitz, das Haus der Familie Antschel an der Masarykgasse 10 (Video)

Juni 1942 - Auch die restlichen Juden sollen deportiert werden. Die Polizei kommt stets in der Nacht nach dem Sabbat. Man weiß das. Paul Antschel findet ein Versteck. Die Mutter aber will nicht. Man kann seinem Schicksal nicht entgehen,16) sagt sie. - Paul lässt die Eltern allein und geht. - Am Morgen des 28.Juni findet er die Wohnung versiegelt.

Wehrmachtskarte von Gaisin mit Notizen der Baufirma Dohrmann

In der Ukraine, am südlichen Bug bauen Leo und Fritzi Antschel, unter Leitung der Firma Dohrmann aus Remscheid, einen Straßenabschnitt für die Wehrmacht. Der Vater stirbt bald an Typhus. Die Mutter wird erschossen.

Straße bei Tabaresti (Video)

Ihr 21jähriger Sohn meldet sich zum Arbeitsdienst und wird nach Tabaresti in ein Lager verbracht, 100km nordöstlich von Bukarest. Auch er baut Heerstraßen.

Bauer im Auto bei Tabaresti , ehemaliges Lagergebäude von Innen (Video)

Hier wurden sie gehalten, Tag und Nacht, sie waren bewacht. Gut bewacht. Das war alles voller Netze bis obenhin. Alles abgetrennt. Hier wurden sie nur tagsüber gehalten. Nachts hatten sie Baracken, sie schliefen in Baracken, so hat man das genannt. Es war alles umzingelt. Ein Lager eben. 17)

Kerze, Ersticken der Kerze

Ich verändere einen Satz, den Adorno auf Odysseus gemünzt hat:

Im Juli 1942 bekennt sich Paul Antschel zu sich selbst, indem er sich als Niemand verleugnet, er rettet sein Leben, indem er sich verschwinden macht. 18)

Als Schatten überlebt er. Er verdiene es nicht. Sein Name zerbricht.

In diesem Sommer beginnt das Gespräch im Gebirg des Paul Celan.

Leser im Zimmer, Spots auf einzelnen Worte an der Wand

"... nicht am letzten, nein, denn da bin ich ja, hier, auf dieser Straße, von der sie sagen, dass sie schön ist, bin ich ja, hier, beim Türkenbund und bei der Rapunzel, und hundert Schritt weiter, da drüben, wo ich hinkann, da geht die Lärche zur Zirbelkiefer hinauf, ich seh's, ich seh es und seh's nicht, und mein Stock, der hat gesprochen, hat gesprochen zum Stein, und mein Stock, der schweigt jetzt still, und der Stein, sagst du, der kann sprechen, und in meinem Aug, da hängt der Schleier, der bewegliche, da hängen die Schleier, die beweglichen, da hast du den einen gelüpft, und da hängt schon der zweite, und der Stern - denn ja, der steht jetzt überm Gebirg -, wenn er da hineinwill, so wird er Hochzeit halten müssen und bald nicht mehr er sein, sondern halb Schleier und halb Stern, und ich weiß, ich weiß, Geschwisterkind, ich bin dir begegnet, hier, und geredet haben wir, viel, und die Falten dort, du weißt, nicht für die Menschen sind sie da und nicht für uns, die wir hier gingen und einander trafen, wir hier unterm Stern, wir, die Juden, die da kamen, wie Lenz, durchs Gebirg, du Groß und ich Klein, du, der Geschwätzige, und ich, der Geschwätzige, wir mit den Stöcken, wir mit unseren Namen, den unaussprechlichen, wir mit unserem Schatten, dem eignen und dem fremden, du hier und ich hier - ..." 1)

Tuschezeichnung mit graphischer Darstellung des Wegs nach oben

Mit einem Satz springt Jude Klein in die Gegenwart.

Wieder ist Juli.

Bücher mit Fotos der Lärche und der Zirbe

Die Lärche wächst auf kargem Grund, manchmal kriecht sie unter der Schneelast wie ein Säbel empor. - Die Zirbe, auch Arve genannt, duckt sich am Hang. Oft ist ihre Krone zerbrochen und braun vom Frost. Die Nüsse aber sind essbar. - Wir befinden uns in der Kampfzone, auf 2000m ü.M.

Paris, Wohnung von Paul Celan, ÉNS(Video)

Juli 1948 - Paul Celan kommt über Bukarest und Wien nach Paris. Er studiert Philologie und deutsche Literatur und schlägt sich als Arbeiter, Dolmetscher und Übersetzer durch. Er heiratet und wird Vater. Seine Muttersprache bleibt deutsch. Bis 1959 veröffentlicht er drei schmale Gedichtbände. Trotz Anerkennung hält er sich abseits des Literturbetriebs und abseits von Deutschland. Mit 39 Jahren wird er Lehrer an der École Normale Supérieur.

Basteln eines Sterns

An die Nachgeborenen schrieb Bertolt Brecht - schon vor Auschwitz:

Was sind das für Zeiten, wo

ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! 19)

Paul Celan wird - in einem seiner letzten Gedichte - fragen:

Was sind das für Zeiten,

wo ein Gespräch

beinah ein Verbrechen ist,

weil es soviel Gesagtes

mit einschließt? 20)

Wann ist ein Gespräch oder ein Gedicht barbarisch? - Wenn es sich, und damit die Welt, im Gesagten einschließt. - Der stur wiederholte Satz: So ist es! unterwirft das Fremde den eignen Zwecken. Das ist das Verbrechen. - Wie aber ist heute ein wirkliches Gespräch mit dem Fremden möglich, das ihm seine ganze Freiheit belässt? - Diese Frage, denke ich, will Celan mit Adorno in Sils besprechen. Es ist eine jüdische Frage. Sie wird nur von denen gestellt, die um ihre eigene Blindheit wissen. - Erst diese Frage begründet ein wir.

Steintal (Video)

Und Lenz? Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten. Er tat alles, wie es die andern taten; es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last. - So lebte er hin. 21)

Tuschezeichnung mit graphischer Darstellung des Wegs nach oben

Leser am Tisch von vorn

"... - ich hier, ich; ich, der ich dir all das sagen kann, sagen hätt können; der ich dirs nicht sag und nicht gesagt hab; ich mit dem Türkenbund links, ich mit der Rapunzel, ich mit der heruntergebrannten, der Kerze, ich mit dem Tag, ich mit den Tagen, ich hier und ich dort, ich, begleitet vielleicht - jetzt! - von der Liebe der Nichtgeliebten, ich auf dem Weg hier zu mir, oben." 1)

Sils-Maria: Hotel, Fahnen, Zug , See (Video)

Wo aber bleibt nur Adorno? - Er kommt nicht rechtzeitig nach Sils. Ich weiß nicht weshalb. - Paul Celan reist - ich kann es kaum glauben! - mit Frau und Kind schon nach einer Nacht wieder ab und wird schreiben: Und vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin, brachte ich eine kleine Geschichte zu Papier, in der ich einen Menschen wie Lenz durchs Gebirg gehen ließ. Ich hatte mich von einem 20.Jänner, von meinem 20.Jänner, hergeschrieben. Ich bin ... mir selbst begegnet. 22)

Nietzsche-Stein am See (Video)

Unweit von Sils, bei diesem Stein, ließ Friedrich Nietzsche seinen Lenz, Zarathustra, sagen: Siehe diesen Torweg! Zwerg!...der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die ging noch niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus - das ist eine andre Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stoßen sich gerade vor den Kopf: - und hier, an diesem Torwege, ist es, wo sie zusammenkommen. Der Name des Torwegs steht oben geschrieben: Augenblick. 23)

Tore auf dem Boden

Kreis am Boden, Finger, die sich berühren

Nur im Augenblick, zwischen Ein- und Ausatmen, in der kürzesten Stille, zwischen Vorbei und Nochnicht, -jetzt!-, nur hier - im Zelt der Gegenwart - ist ein wirkliches Gespräch mit dem Fremden möglich. Dieses flüchtigste und einzig verbliebene Glück suchen, bezeugen und ermöglichen vielleicht die Gedichte Paul Celans.

Schrift an der Wand mit dem Schlußsatz der Erzählung

Nach Paris zurückgekehrt schreibt Paul Celan diese Geschichte. Sie umreißt seine Utopie: Das Gespräch - und damit das Gedicht - ist möglich - auch im Gebirg!

Kristall -Szene 4

Adorno wird 10 Jahre später schreiben: Diese Lyrik ist durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen ... Sie ahmen eine Sprache unterhalb der hilflosen der Menschen, ja aller organischen nach, die des Toten von Stein und Stern ...

Die Sprache des Leblosen wird zum letzten Trost über den jeglichen Sinnes verlustigen Tod. 24)

Paris, Seine (Video)

Ich bin ... mir selbst begegnet. - Paul Celan fährt fort: ... geht man mit Gedichten solche Wege? Sind diese Wege nur Um-Wege, Umwege von dir zu dir? Aber es sind ja zugleich auch Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, ein Sichvorausschicken zu sich selbst ... eine Art Heimkehr. 25)

Im April 1970 nimmt sich Paul Antschel sein Leben.

Leser am Tisch von hinten

Einem ratlosen Leser riet Paul Celan:

Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst. 26)

Schrifträume

Pullover ausziehen, Vorhang aufmachen

Ende


Zitate

1) Paul Celan: "Gespräch im Gebirg", 1959, © Suhrkamp Verlag

2) Friedrich Nietzsche: "Also sprach Zarathustra, 1885

3) Chrysostomus D. Westphalus: "Kurtze Beschreibung von einem Juden mit Namen Ahasverus", 1602

4) Georg Büchner: "Lenz", 1839

5) Erich Hartinger (Text), Hans Kolesa (Musik): "Wenn wir erklimmen", ein Wanderlied

6) Friedrich Nietzsche: "Also sprach Zarathustra, 1885

7) Theodor W. Adorno: "Kulturkritik und Gesellschaft", 1949-51

8) Georg Büchner: "Lenz", 1839

9) Paul Celan: "Nächtlich geschürzt", 1955

10) Horkheimer, Adorno: "Dialektik der Aufklärung", 1944

11) Paul Celan: "Nächtlich geschürzt", 1955

12) Theodor W. Adorno: "Ästhetische Theorie", 1970

13) Horkheimer, Adorno: "Dialektik der Aufklärung", 1944

14) Georg Büchner: "Lenz", 1839

15) Paul Celan: "Ansprache anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises", 1958

16) Israel Chalfen: "Paul Celan", 1983

17) IInterview mit dem Bauer Marin Christea (*1934) aus Tabaresti (2.8.96 ); übersetzt von Elias Isaila

18) Horkheimer, Adorno: "Dialektik der Aufklärung", 1944

19) Bertolt Brecht: "An die Nachgeborenen", 1938

20) Paul Celan: "Ein Blatt", 1971

21) Georg Büchner: "Lenz", 1839

22) Paul Celan: "Der Meridian", 1960

23) Friedrich Nietzsche: "Also sprach Zarathustra, 1885

24) Theodor W. Adorno: "Ästhetische Theorie", 1970

25) Paul Celan: "Der Meridian", 1960

26) Israel Chalfen: "Paul Celan", 1983


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