Las Hurdes (Langfassung) Ein Filmprojekt von Mattias Caduff Produktion: Andres Pfäffli, venturafilm
1. Teil: Überblick über das Thema
Ein Land hinter den sieben Bergen Las Hurdes - Hinter diesen Buchstaben verbirgt sich ein gebirgiges Land. Abseits aller Verkehrswege liegt es im spanischen Grenzgebiet zu Portugal. Die Hänge sind steil und trocken. In der Talsohle fließt ein Bach zwischen terrassierten Äckern. Kaum ein Tourist verirrt sich nach Las Hurdes. Die kürzlich beschilderten Wandererwege enden bald im Gestrüpp. Ab und zu macht eine Familie mit dem Auto einen Abstecher. Die Kinder springen von den Felsen in die Bäche. Kleine Fische stieben davon. Die Jugendlichen, die in der Abenddämmerung am Strassenrand sitzen, werden bald in die Großstädte abwandern. Wen wunderts, hier gibt es keine Arbeit für sie. - Aber die Hurdanos hängen an ihrem Land. Im Alter kehren sie in ihre Dörfer zurück. Man erkennt es an den vielen Neubauten. Die winzigen Hütten aus Bruchstein, in denen sie früher lebten, zerfallen. Blickt man in die Vergangenheit zurück und in Bücher hinein, verwandelt sich Las Hurdes in ein Land der Legenden. Es sind keine guten Legenden: Verbrecher, Flüchtlinge, Verfolgte und Ausgestoßene sollen das unfruchtbare Bergland einst bevölkert haben. Inmitten des Weltreichs Spanien, so erzählen diese "Legendas negras", befinde sich ein rückständiges Land, dessen Bewohner bar jeder Kultur und Sitte um ihr Leben kämpften. Nicht einmal das Brot kenne man dort! Abenteurer, Mönche, Künstler & Wissenschaftler ritten auf Eseln über die Berge, um jenes exotische Land zu erforschen. Einige versuchten, die Bevölkerung von ihrem Leid zu erlösen. Sie blieben ohne Erfolg. Nach ihrer Rückkehr in die Städte vermehrte sich nur die Zahl der Legenden.
"Land ohne Brot" - ein Film von Luis Buñuel Luis Buñuel ritt nicht mehr mit dem Esel, sondern fuhr im Auto nach Las Hurdes. Dort drehte er im Frühling 1933 seinen einzigen Dokumentarfilm, "Land ohne Brot". Aus scheinbar wissenschaftlichem Blickwinkel beschreibt der Film eine Expedition in die Hölle auf Erden.
"Land ohne Brot" schildert ein Leben, wie es schlimmer nicht sein könnte: Unwissenheit, Elend, Hunger, Sysiphusarbeit, Inzest, Krankheit und Lieblosigkeit quälen die Hurdanos, die ihren biblischen Plagen wie Tiere ausgeliefert sind. Der Film verweigert konsequent jeden Schimmer einer Hoffnung. Teilnahmslos und kühl tönt die Kommentarstimme, genau wie ein Pathologe, der angesichts einer Leiche seinen Befund diktiert. In groteskem Gegensatz dazu hören wir eine herbe, romantische Musik, wie sie in den Konzertsälen der Großstädte ertönt, die Symphonie IV. von Johannes Brahms.
Als "Land ohne Brot" fertig gestellt war, durfte der Film nicht vorgeführt werden. Die zuständigen, nota bene republikanischen Stellen taxierten ihn 1934 als "Beleidigung für Spanien". Obwohl die spanische Landbevölkerung teilweise in größtem Elend lebte, war auch die junge Republik bestrebt, ein positives Bild der Landwirtschaft zu zeichnen. Der Unmut des Landproletariats sollte wohl nicht weiter vergrößert werden. Erst nach Beginn des Bürgerkrieges erlebte der Film seine wirkliche Verbreitung - und zwar in Paris. "Land ohne Brot" wurde mit einem neuen Vor- und Abspann versehen, der ihn unmissverständlich in den Dienst des antifaschistischen Kampfes stellte. Die Zeitumstände machten aus einem Film, der eigentlich die Agrar- und Bildungspolitik der spanischen Republik kritisierte, einen prorepublikanischen Film. "Land ohne Brot" wurde damals als engagierter Dokumentarfilm gefeiert, der dem sozialistischen Realismus verpflichtet sei und durch Aufklärung zur Überwindung des sozialen Elends beitrage. Jahrzehnte später, nach dem Tod Francos, begann man den Film anders zu lesen. Man entdeckte einen widersprüchlichen Film, dessen Status als Dokumentarfilm nicht mehr so eindeutig war.
Zwei Irritationen
"Land ohne Brot" ist ein vollständig inszenierter Dokumentarfilm.
Die letzten 70 Jahre in Las Hurdes Im Herbst 2003 reiste ich für zwei Wochen nach Las Hurdes. Ich nahm genau jene Reiseroute, die in "Land ohne Brot" vorgezeichnet wird. Von Salamanca fuhr ich über die relativ bekannten Ausflugsziele La Alberca und Las Batuecas nach Las Hurdes. Aufs Geratewohl versuchte ich, die Drehorte von "Land ohne Brot" zu finden. Das war erstaunlich einfach! Es faszinierte mich immer wieder, wenn ich plötzlich genau an jener Stelle stand, wo Buñuel 1933 seine Kamera aufbauen ließ. Was war der Grund meiner Faszination? - Zwischen dem, was vor mir lag - ein Dorf oder ein raschelnder Pappelwald - und dem Film "Land ohne Brot" klaffte tatsächlich ein Abgrund. 70 Jahre trennten mich von einer vollkommen anderen Zeit! - Aber gleichzeitig schienen "Land ohne Brot" und meine eigenen Erlebnisse durch einen dünnen Faden verknüpft zu sein. In Las Hurdes glaubte ich, dieses Gespinst zu berühren. Selbst in Las Hurdes war die Zeit nicht spurlos vergangen. Die ersten Strassen, Schulen und Wasserreservoirs wurden in den zwanziger und dreißiger Jahren gebaut. Heute zerfallen diese Bauten. Das Wirtschaftswunder der sechziger Jahre brachte ein wenig Geld in diese entlegenen Täler. Die Gastarbeiter brachten es zurück. Viele von ihnen arbeiteten übrigens in der Schweiz. - Seit dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft (1986) wird die Region mit Geld aus Brüssel gefördert. Überall begegnet man dem blauen Sternenbanner.
Heute leben in Las Hurdes etwa 8000 Menschen, gleichviel wie zu Buñuels Zeiten. Die Zeiten des größten Elends sind vorbei. Aber immer noch kämpft Las Hurdes mit den typischen Problemen einer armen Randregion. Die Menschen fühlen sich von den Machtzentren im Stich gelassen. Sie wehren sich gegen die Vorurteile, gegen die unausrottbaren "Legendas negras". Aber gelten sie wirklich noch? Oder sind die Hurdanos in diesem Punkt überempfindlich? - Auf den Film von Luis Buñuel sind die Leute jedenfalls nicht gut zu sprechen! Man schimpft über ihn und spricht von Lüge! Das beste Urteil über "Land ohne Brot", das ich hörte, gab ein junger Imker aus Pinofranqueado ab. Nachdem er mir erklärt hatte, dass Bienen nie und nimmer einen Esel töten, wie dies im Film gezeigt wird, meinte er achselzuckend: "Buñuel war eben Surrealist. Wenigstens hat sein Film unsere Gegend bekannt gemacht. Wer weiß, wieviel Hilfe und wie viele Touristen wir nur seinetwegen bekamen?" Heute versuchen die lokalen Behörden und Wirtschaftskreise ein positives Image von ihrer Region zu zeichnen, das Investoren und Touristen anlockt. Man stellt den Erholungswert der romantischen Natur heraus. Man preist die Traditionen, die Folklore und die kulinarischen Spezialitäten. In Pinofranqueado, dem Hauptort der Las Hurdes, ist ein Dokumentationszentrum entstanden, das die Geschichte der Region in ein besseres Licht stellen will. Der Leiter fragte mich gereizt: "Warum interessieren sich bloß alle für diesen alten Film von Buñuel und nicht für die Gegenwart?"
Das Filmteam - und sein "cadavre exquis" "Land ohne Brot" wurde nicht von Luis Buñuel allein geschaffen. Der Film ist die Arbeit eines Kollektivs. Ein Teil des Teams waren Freunde von Buñuel aus Paris. Kurz zuvor waren sie gemeinsam aus der Gruppe der Surrealisten um André Breton ausgetreten: Der Fotograf Eli Lotar machte für "Land ohne Brot" die Kamera. Der junge Dichter Pierre Unik verfasste mit Buñuel zusammen den Filmkommentar. Die andere Hälfte des Filmteams waren alte Freunde aus Spanien, zwei Anarchisten: Ramón Acín war eine vielfältige Persönlichkeit. Er war Journalist, Pädagoge, Bildhauer und Zeichner. Acín finanzierte "Land ohne Brot" mit einer bescheidenen Geldsumme, die er im Lotto gewonnen hatte. 1936 wurde Acín zusammen mit seiner Frau von den Truppen Francos erschossen. - Rafael Sánchez Ventura war ein Jugendfreund von Buñuel. Er arbeitete bis 1936 an der Universität Zaragoza als Dozent für Literatur und Kunst. Sánchez Ventura und Acín standen beide sowohl der Arbeiterschaft und als auch den Avangardekünstlern nahe und versuchten, zwischen diesen unterschiedlichen Welten zu vermitteln. Im Filmteam waren sie vor allem für die Organisation zuständig, aber nicht nur. Obwohl "Land ohne Brot" zu einer Zeit entstand, als die surrealistische Bewegung sich auflöste und die ehemaligen Mitglieder ihre eigenen Wege gingen, kann man die Kollektivarbeit, die während der Dreharbeiten herrschte, auf eine typisch surrealistische Arbeitsweise zurückführen. In "Le Cadavre exquis" (1948) beschreibt André Breton das gleichnamige Zeichenspiel folgendermaßen: "Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann. Was uns tatsächlich an diesen Kompositionen begeistert hat, war diese Gewissheit: Was auch immer dabei herauskommen mochte, sie waren geprägt durch das, was ein Gehirn allein nicht hervorbringen kann."
Nach dieser Methode ist Buñuels erster Film "Un chien andalou" (1929) entstanden, der auf den gemeinsamen, "automatischen" Einfällen von Salvador Dalí und Buñuel basiert. In "Land ohne Brot" ist dieses Spiel zwar nicht mehr oberstes Prinzip, aber immer noch spürbar. "Land ohne Brot" kann als gemeinsame Suche nach einer Antwort auf folgende Frage gelesen werden: "Wie kann die Avangardekunst mit einer sozial engagierten Politik verbunden werden?" 1933 war dies eine dringende, aber schwer zu beantwortende Frage. Die Fronten verhärteten sich in ganz Europa, die Auseinandersetzungen wurden radikaler und militanter. Man geriet unter verstärkten Druck, sich zu dem einen oder anderen politischen Langer zu bekennen, ob man nun wollte oder nicht. Wer sich nicht einordnen ließ, geriet zwischen die Fronten. So erging es den Mitgliedern des Filmteams - und ihrem Film. Aus diesem Blickwinkel ist "Land ohne Brot" ein antidoktrinäres Dokument, eine Art "Kriegsdienstverweigerung" der Kunst.
Buñuels Vorgänger & Gegenspieler in Las Hurdes "Land ohne Brot" suggeriert dem Zuschauer, die Filmequipe sei damals in eine unbekannte Randregion vorgedrungen. Dem war aber nicht so, im Gegenteil. Las Hurdes war 1933 bereits ein oft beschriebenes Blatt. Schon im 17.Jahrhundert tauchten die Bewohner der Gegend als tollpatschige, aber liebenswerte "bárbaros" in Komödien, Romanen und Gedichten auf. Ähnlich wie in Deutschland die Ostfriesen oder in der Schweiz die Appenzeller wurden die Hurdanos zu "tölpelhaften, ungehobelten Hinterwäldlern" stilisiert. Von diesem Vorurteil ist übrigens auch der Film "Land ohne Brot" nicht frei. Der unmittelbarste Vorgänger von Luis Buñuel war der Franzose Maurice Legendre. Nach unzähligen Aufenthalten in Las Hurdes veröffentlichte er 1927 eine Dissertation mit dem Titel "Las Jurdes - Etude de Géographie humaine". Dieses engagierte Buch war die wichtigste Informationsquelle des Filmteams. Seine Lektüre gab nicht bloß den ersten Anstoß zu "Land ohne Brot", sondern diente auch als Vorlage für den Kommentar und sogar für einige Filmszenen, die präzise nachgestellt wurden. Zwei weitere Vorgänger waren der spanische König Alphonso XIII. und der Arzt Gregorio Marañón. Zu Pferd bereisten sie 1922 Las Hurdes. Eine solche königliche Expedition war in Spanien ein Novum. Mit zahlreichen Journalisten, Fotografen und Fachleuten im Tross ritt der König in die ärmste Ecke seines Reiches, um seine Volksverbundenheit zu demonstrieren. Denn die Monarchie wurde damals von immer mehr Spaniern abgelehnt. - Marañón untersuchte Krankheiten wie "Kropfbildung" und "Kretinismus", die in Las Hurdes weit verbreitet waren. Ihre Ursache war der chronische Hunger. Am Ende der Reise wurde feierlich das königliche "Patronato de Las Hurdes" gegründet, eine Kommission, welche die Entwicklung der Gebirgsgegend fördern sollte. Kein Vorgänger, sondern ein zeitgenössischer Gegenspieler war José María Albiñana y Sanz, ebenfalls Arzt und eine illustre Gestalt der spanischen Politik. 1930 gründete er die erste, allerdings unbedeutende faschistische Partei Spaniens, "El Partido Nacionalista Español". 1932 wurde Albiñana von der republikanischen Regierung nach Las Hurdes verbannt und lebte ein Jahr lang genau in jener Ecke der Las Hurdes, in der zur selben Zeit "Land ohne Brot" gedreht wurde. Während seiner Verbannung schrieb Albiñana zwei Bücher, "Confinado en Las Hurdes" und "La Republica Jurdana". Sie sind mit zahlreichen Fotos und Karikaturen illustriert. Der Romanist Titus Heydenreich beschreibt in seinem Aufsatz "Arkadien im Negativ" (1994) die beidem Bücher so: "Zum einen will Albiñana die eigene Entwürdigung durch Relegierung unter Analphabeten und Kretins herausstreichen, zum anderen die Reformsäumigkeit der Republik anprangern. Das Elend wird propagandistisch genutzt. Was bei der beschwerlichen Lektüre überwiegt, ist der peinliche Eindruck gequälter Witzigkeit - gequält, weil nicht von politischer Überlegenheit gespeist, sondern von Hass und unbefriedigtem Machthunger." - 1936 wurde Doctor Albiñana zusammen mit anderen konservativen Politikern von republikanischen Milizionären in einem Madrider Gefängnis ermordet.
Versteckte "Vorbilder" In seiner ganzen Erzählweise behauptet "Land ohne Brot", ausschließlich eine vorgefundene Wirklichkeit abzubilden. Man kann den Film aber auch ganz anders wahrnehmen. "Land ohne Brot" kann geradezu als Kompilation älterer literarischer und visueller Motive beschrieben werden. Einige der zahlreichen Vorgänger habe ich bereits erwähnt. Aber auch die Bilder aus "Land ohne Brot" beziehen sich auf ältere Motive. "Vorbilder" im wörtlichen Sinn werden zu einer Art Collage verbunden. Durch dieses Verfahren, das im Surrealismus große Bedeutung erlangte, werden Motive so miteinander konfrontiert, dass sie in ganz neuem Licht erscheinen. In einer Szene sieht man ein krankes Mädchen in der prallen Sonne einsam am Boden liegen. Ein Mann tritt hinzu und gibt sich als Arzt aus. Das Mädchen öffnet in graziler Weise seinen Mund. Man sieht eine Nahaufnahme des aufgerissenen Kindermundes. Die Kommentarstimme erklärt dazu: "Wir können ihr entzündetes Zahnfleisch und ihren entzündeten Rachen sehen. Leider können wir nichts für sie tun. Als wir uns zwei Tage später nach ihr erkundigen, hat man uns geantwortet, das Mädchen sei tot."
Auf der erwähnten Reise des Königs sind viele Pressefotos entstanden. Unter ihnen befindet sich eine Aufnahme, die einen Arzt des Königs zeigt: Er untersucht das Auge eines Mädchens. Anders als in "Land ohne Brot" ist dieses Mädchen nicht allein. Es wird von einer Frau beschützt, während der fremde Mann sich ihm nähert. Dieses Foto stellt die positive Seite der modernen Medizin dar. Die Monarchie erscheint in Gestalt des barmherzigen Samariters. - In "Land ohne Brot" wird dieses aus der Presse bekannte Bildmotiv aufgegriffen. Sein Heilsversprechen wird in einer Weise in sein Gegenteil verkehrt, das selbst heute noch schockierend ist. Das Filmteam lässt das schwer kranke Mädchen alleine zurück, es stirbt. So jedenfalls wird es im Film erzählt. Eli Lotar, der Kameramann von "Land ohne Brot", spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der visuellen Gestaltung des Films. Anfang der dreißiger Jahre arbeitete er eng mit dem Fotografen Jacques-André Boiffard zusammen. Dieser veröffentlichte in der Zeitschrift "Documents" ein Foto, das ebenfalls einen aufgerissenen Mund zeigt. In derselben Nummer (Documents No 5, 1930) erschien ein Aufsatz von Georges Bataille mit dem Titel "Bouche". Bataille beschreibt darin den aufgerissenen Mund als Zeichen der Tierhaftigkeit des Menschen. Der geschlossene Mund hingegen ist für ihn das Zeichen des zivilisierten Menschen. Bataille lässt keinen Zweifel darüber, welchen Mund er vorzieht. Er schließt seinen Aufsatz mit dem Satz: "Deshalb trägt die streng zivilisierte Attitüde des Menschen den Charakter einer veritablen Verstopfung. Der sittsam geschlossene Mund ist so schön wie ein Panzerschrank."
In diesem Bild eines aufgerissenen Mundes aus "Land ohne Brot" überlagern sich also mindestens drei Bilder aus unterschiedlichen, ja, gegensätzlichen Zusammenhängen. Die Wirkung dieser Überlagerung ist vergleichbar mit der Montage bei Sergej Eisenstein: Aus mehreren Bildmotiven entsteht in ihrer Collage etwas Neues. Im Gegensatz zu Eisenstein bleiben jedoch in "Land ohne Brot" die Bestandteile der Überlagerung für die meisten Zuschauer verborgen. "Land ohne Brot" appelliert nicht an den Verstand, sondern an das Gefühl.
"Land ohne Brot" als Vorahnung des Spanischen Bürgerkriegs Als "Land ohne Brot" 1936 endlich Verbreitung fand, nahm man ihn als realistischen Dokumentarfilm wahr. Der englischen Filmemacher Basil Wright schrieb 1937: "Realisiert vom ehemaligen Leinwandpropheten des Surrealismus, Luis Buñuel, strebt "Land ohne Brot" in seiner visuellen Einfachheit keine "Kreativität der Vorstellung", das angebliche Kennzeichen des Dokumentarfilms, an, sondern die nackte Tatsachendarstellung, die sicher den Titel eines Dokuments verdient. Er war mit einer Kamera in Las Hurdes; er sah diese Sachen; er filmte sie. Das ist alles." - Die Dokumentarfilmbewegung um John Grierson, der auch Basil Wright angehörte, vertrat damals die Ansicht, der Film müsse ein objektives Bild der Welt vermitteln, das den Zuschauern die Augen für die Wirklichkeit öffnet, sie dadurch bildet und schlussendlich zu mündigen Demokraten macht. Aber war dies die Absicht von "Land ohne Brot"? Es gibt in "Land ohne Brot" eine interessante Sequenz über den Schulunterricht in Las Hurdes. Man sieht die grimmig blickenden Kinder in den Schulbänken sitzen. Die Kommentarstimme bemerkt dazu: "Diesen ausgehungerten Kindern bringt man wie übrigens überall bei, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks gleich der von zwei rechten Winkeln ist." Kurz bevor "Land ohne Brot" gedreht wurde, waren in praktisch allen hurdanischen Dörfern Schulhäuser errichtet worden. Zum ersten Mal in der hurdanischen Geschichte war es den Kindern möglich, in die Schule zu gehen! Die Schulbildung war ein zentrales Anliegen der Republik. - In "Land ohne Brot" jedoch wird diese Bildungspolitik kritisiert. Nicht offen, sondern in Andeutungen vertritt "Land ohne Brot" etwa folgende These: Dieser Schulunterricht nützt diesen Kindern nichts, er indoktriniert sie nur. Die Kinder lernen, sich in ihre Armut zu fügen. Solange sie in solchem Elend aufwachsen, ist alles Lernen umsonst. Was aber sollten die Kinder stattdessen lernen? Welche Lösungen überhaupt schlägt der Film für die Probleme der Hurdanos vor? "Land ohne Brot" schlägt überhaupt keine Lösung vor. Er kann oder will keine bessere Welt vor Augen führen. "Land ohne Brot" ist ein heute noch verstörendes Zeugnis der Ausweglosigkeit und der Wut. Er ist ein Vorahnung des Bürgerkriegs.
2. Teil: Beschreibung des Filmprojekts
Um was dreht sich mein Film? Es ist nicht leicht, das Thema des geplanten Films in diesem frühen Stadium auf den Punkt zu bringen. Mein Projekt ist in Bewegung. Es kreist um jenes rätselhafte Gebilde mit dem Namen "Las Hurdes". "Las Hurdes" ist, wie gesagt, zunächst ein Ortsname. "Las Hurdes" steht aber auch für einen Dokumentarfilm von Luis Buñuel. Mehr noch: Unter dem Stichwort "Las Hurdes" findet man eine ganze Bibliothek von Legenden. Diese handeln nicht mehr nur von einem Ort, sondern sind zudem schillernde Allegorien, die Verschiedenes bedeuten können: Manchmal ist die wilde Natur gemeint, manchmal die Welt als Jammertal. Bei jenem Autor steht "Las Hurdes" für das Exotische, bei diesem für das Bekannte. In Buñuels Film steht "Las Hurdes" für das damalige Spanien als Ganzes. Auch unter der neuen republikanischen Regierungsform erlebte Buñuel sein Geburtsland als mittelalterlich, rückständig und zerrissen von schmerzhaften Widersprüchen. - "Las Hurdes" ist also mehr als eine Region. Es ist ein Gebilde in den Köpfen und Seelen der Menschen, damals wie heute. Dieses widersprüchliche "Herzland", dieser "Zankapfel" ist Thema meines Films. "Land ohne Brot" von Luis Buñuel ist der Angelpunkt des geplanten Films. Buñuels Film bietet aber nur eine mögliche Perspektive auf "Las Hurdes". Ihr müssen unbedingt die gegnerischen Perspektiven eines Gregorio Marañón oder eines José María Albiñana gegenüber gestellt werden. - Dass "Land ohne Brot" eine Kollektivarbeit war, habe ich bereits angedeutet. Innerhalb des Filmteams gab es unterschiedliche Ansichten, zum Beispiel über die Frage, ob und wie die Lage der Hurdanos verbessert werden könnte. Auch diese Konflikte sind Teil des geplanten Films. - Neben diesen historischen Perspektiven auf "Las Hurdes" gilt es aber auch, die Geschichten der heutigen Hurdanos zu entdecken. Was erzählen sie über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihres Landes? Mir schwebt also ein filmisches Porträt von "Las Hurdes" vor, das sich aus Parallelgeschichten zusammensetzt. "Geschichten, nicht Geschichte!" So könnte das Motto dieses Projektes lauten. Denn ich bin überzeugt, dass sich "Las Hurdes" nur aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben lässt. Resultat einer solchen Geschichtsauffassung ist keine Sammlung von Fakten, sondern von Widersprüchen, eine Art "wilde Anthologie". - Aber passt dies nicht zu einer Bergregion wie Las Hurdes? Das vorliegende Projekt berührt nebenbei auch das Problem der Wahrnehmung von Filmen. "Land ohne Brot" ist vielleicht der erste Film, der mit dem Begriff "Dokumentarfilm" spielt. Er führt seine Zuschauer auf das Glatteis der Authentischen: Was ist "Wirklichkeit", was ist "Kunst"? - Im Moment der Vorführung wird der gezeigte Film tatsächlich zur Realität, nicht weil die Filmbilder eine Wirklichkeit außerhalb des Kinosaals wiedergeben, sondern weil die Zuschauer den Film mit all ihren Sinnen erleben.
Der Aufbau des Films Man kann den Aufbau des geplanten Film mit einem Teppich vergleichen, der bekanntlich aus Zettel und Schuss besteht. Der Zettel ist die tragende Struktur des Gewebes und besteht aus einem einzigen Material, das vor allem stabil sein muss. Der Schuss wird in den Zettel hinein gewoben, er ist für das eigentliche Aussehen des Teppichs verantwortlich und kann aus verschiedenen Materialien bestehen. Der Schuss meines Films besteht aus verschiedenen Bild- und Tondokumenten, die zusammen ein heterogenes Bild ergeben. Ich kann die Fülle dieses Materials nur andeuten:
Derart vielfältige Materialien in einem Film zu verwenden ist nur möglich, wenn ein stabiler Zettel sie zusammenhält: Der Zettel des geplanten Films sind arrangierte Szenen. Es sind fiktive Begegnungen zwischen historischen Figuren und heutigen Menschen. Sie diskutieren und streiten miteinander. Ihre Gespräche kommentieren, begleiten und verbinden die diversen Materialien, die ich eben beschrieben habe. Mit Hilfe dieser Spielszenen werden all jene Aspekte darstellbar, die mit dem konkretem Material nicht erzählt werden könnten. Aber wie ist das möglich, wo doch die historischen Protagonisten schon lange tot sind? Man könnte Schauspieler engagieren. - Nein, meine Szenen sollen nicht von Menschen gespielt, sondern mit Hilfe von Animationen inszeniert werden. Ich möchte hier zwei Möglichkeiten skizzieren. Es handelt sich dabei nicht um fertige Konzepte. Ihre Entwicklung ist ein Teil dieses Projektes:
Beide Konzepte erlauben es, historische Vorgänge zu rekonstruieren, abstrakte Gedanken sinnlich erfahrbar zu machen und sogar Spekulationen anzustellen. Darin gleichen sie dem bekannten Dokudrama. Im Gegensatz zum Dokudrama macht mein Verfahren aber deutlich, dass es sich bei den Spielszenen nicht um die Wirklichkeit selbst, sondern nur um ihre modellhafte Rekonstruktion handelt. Spielerische Darstellungsmittel, wie der Zeichentrick oder das Puppenspiel, können zudem helfen, ein ernsthaftes Thema wie "Las Hurdes" einem größeren Publikum zu vermitteln.
Die Filmmusik "Land ohne Brot" war bei seiner Uraufführung ein Stummfilm. Der Kommentar wurde live eingesprochen. Erst 1936 konnte der Film vertont werden. Seine Tonebene besteht aus zwei Elementen, einer Kommentarstimme und einer pausenlosen Musikuntermalung. Den ausführlichen Kommentartext spricht Abel Jaquin mit einer messerscharfen Stimme. Bei der Musik handelt es sich um die Symphonie IV. von Johannes Brahms. Die Verwendung klassischer Musik ist eine auffallende Gemeinsamkeit der ersten Filme von Luis Buñuel. Vor allem "Das goldene Zeitalter" (1930) legt den Schluss nahe, dass die verwendete Konzertmusik nicht einfach einer Konvention des Stummfilms entsprach: Man sieht in diesem Film die reichen Gäste einem Gartenkonzert lauschen, während auf der Strasse draußen die Polizei auf Demonstranten schießt. Man kann die klassische Musik bei Buñuel als die elitäre Kunst des damaligen Bürgertums interpretieren. Es hörte lieber Beethoven oder Mozart, als die Lage der Landarbeiter zur Kenntnis zu nehmen. In ähnlicher Weise steht auch in "Land ohne Brot" die Musik von Brahms in krassem Gegensatz zum Leid in Las Hurdes. Die menschliche Stimme und die Musik von Brahms werden auch in meinem geplanten Film die akustische Grundlage bilden. Die beiden Elemente müssen aber ergänzt und verwandelt werden:
Die nächsten Schritte Ziel meiner Arbeit ist ein präzises Drehbuch, das zur Produktionsförderung eingereicht werden kann. Auf dem Weg dorthin sehe ich folgende Etappen vor mir:
Mattias Caduff, April 2005
Anhang
Daten zur spanischen Geschichte & zur Entstehung von "Land ohne Brot"
Produktionsdaten zu "Land ohne Brot"
@ Mattias Caduff, Basel, 2005 |