Peiden
- Eine Erzählung von Mattias Caduff
Digibeta, 24min, CH 2002
vollständiger deutscher
Filmtext von Mattias Caduff
1. Einleitung (01:00:00:00
- 01:01:01:18)
Mein Grossvater stammte aus
einem winzigen Dorf im Lugnez. Vor hundert Jahren etwa muss er ausgewandert
sein, zuerst nach Chur, dann nach St.Gallen. Vor meiner Geburt starb er.
Mein Vater zeigte mir das Dorf,
in dem er als Knabe die Sommerferien verbrachte, nur ein einziges Mal.
Nur selten erzählte er
von: Peiden, in Klammer Graubünden. So heisst - laut Geburtsschein
- mein Heimatort.
Vor kurzem erst lernte ich
das Dorf wirklich kennen. Es zählte noch knapp ein Dutzend Seelen.
Ich wollte sie alle kennenlernen,
um Euch von ihnen zu erzählen.
2. Margretha Castelberg,
1.Teilstück (01:01:01:18 - 01:02:31:00)
Beginnen will ich mit Margretha,
der ältesten Bewohnerin von Peiden.
Sie war die Einzige, die noch
im Dorf geboren worden war.
Und sie war mit mir verwandt:
Mein Ururgrossvater muss ihr Urgrossvater gewesen sein.
Obschon Margretha mich kaum
kannte, behandelte sie mich sofort wie ihren Enkel.
Sie lud mich zum Essen ein.
Es gab Schweinebraten, Kartoffeln, Bohnen und Salat, dazu Wein.
Sie aber ass kaum etwas und
trank bloss Kaffee. Ich platzte beinah!
Als junge Frau arbeitete Margretha
in der Küche verschiedener Hotels. Das habe ihr sehr gefallen! Dann
brach der Krieg aus. Sie musste nach Peiden zurückkehren, blieb ledig
und machte ein halbes Jahrhundert den Haushalt ihrer Mutter und ihrer
drei Brüder, bis alle starben.
Ihre Leidenschaft galt dem
Weben. Aber es blieb kaum Zeit dazu.
3. Esterina Degiacomi
(01:02:31:00 - 01:04:32:00)
Fahren wir fort mit Esterina,
der jüngsten Bewohnerin des Dorfes.
Vor kurzem erst hat sie der
Stadt den Rücken gekehrt.
Sie arbeitet in Ilanz, als
Schulpsychologin.
Nebenbei praktiziert sie ein
neues Training aus Amerika - hier an sich selbst.
Kurz gesagt: Sie macht die
Hirnwellen ihrer Klienten sichtbar, damit diese - spielerisch - lernen,
sich besser zu konzentrieren
- oder ruhiger zu schlafen.
À propos! Man sagt und
sieht: Im Lugnez rutscht der Hang und mit ihm die Häuser jedes Jahr
ein Stück ins Tal hinab. In Peiden hat man davor keine Angst mehr!
"Als oberhalb des Dorfes
die Wasserleitung wieder gerissen war, fiel mir eines nachts die Bettflasche
auf den Boden. Es gab es einen Knall und ein Glucksen! Ich erschrak fürchterlich
und dachte: Was ist jetzt!?"
Das passiert ihr nicht, wenn
kein Wasser in den Hang läuft. Dann denkt sie:
"Ach Gott! Jetzt steht
das Haus schon 99 Jahre! Es wird halten, bis ich ins Altersheim muss!"
"Wie würdest Du Dich
selber filmen?" fragte ich.
"Ich würde irgendwo
sitzen und umherschauen. Halt relativ langweilig. Aber ich finde das tipptopp!"
4. Ich (01:04:32:00 -
01:05:42:00)
Während all der Wochen,
die ich in unregelmässigen Abständen im Dorf verbrachte, wohnte
ich direkt neben Margretha's Haus.
Wie die meisten Häuser
war dieses Haus unbewohnt, seit langem nur noch ein Ferienhaus,
das sich plötzlich mit
vielen Menschen füllte, um ebenso schnell wieder zu verwaisen.
Manchmal ertappte ich mich
bei dem Gedanken, dieses oder ein anderes Haus zu mieten und hier zu leben,
weil es hier schön war.
Manchmal langweilte ich mich
aber auch und staunte, weshalb den Dorfbewohnern die Langeweile so fremd
war, wie sie alle betonten.
Während ich mit einer
Grippe im Bett lag, weil ich die Kälte nicht gewohnt war, legte mir
jemand Äpfel vor die Tür.
5. Martin Werder (01:05:42:00
- 01:07:42:00)
Hinter dem Haus, wo ich wohnte,
steht ein Stall, der zu einer Wohnung umgebaut wurde.
Er gehört Martin, einem
studierten Agronomen. Er arbeitet in Winterthur im Divisionsstab eines
Konzerns und ist zuständig für Marketing.
"Ich arbeite vier, fünf
Tage die Woche. Am Freitag komme ich hier hoch. - Und am Sonntag muss
ich wieder zurück ins Bürogefängnis!"
In Zürich hat er zwar
eine Wohnung. Wirklich leben tut er aber in Peiden, seiner Parallelwelt.
Einem Zürcher, der hier
Ferien machte, erzählte Martin, er züchte hier oben Gras. Wie
enttäuscht war der, als er sah, dass es sich nur um ein Berggras
handelte.
Es heisst Schwarzrotschwingel.
Martin sagte: "Ich züchte
hier oben das Basissaatgut ,PranSolas, das allererste Ökotypengras
für Hochlagen, das im Handel erhältlich war, ein gewaltiger
Fortschritt!"
Damit kann man Skipisten und
andere Baustellen im Gebirge viel besser begrünen. Denn Martin's
Gräser sind horstbildende Bergpflanzen, die viel robuster und schöner
sind als die handelsüblichen Sorten, aber auch teurer.
Er hat auch einen Roboter,
den ,Robo-Trac erfunden.
Davon aber kann ich Euch leider
nicht auch noch erzählen.
6. Katharina Belser (01:07:42:00
- 01:09:43:00)
Jetzt hätte ich fast Katharina
aus Niedergösgen vergessen!
Der frühere Hausbesitzer
versprach ihr: "Hier wohnt fast keiner mehr, man lässt sich
in Ruh!" - Schon am Telefon hatte sie Herzklopfen: "Mensch,
das ist es!"
Katharina verdient ihren Lebensunterhalt
im Dorf: Selbständige Heimarbeit mit dem Kopf - und dem Internet.
Vorallem für das ,Eidgenössische Büro für die Gleichstellung
von Frau und Mann. Sie übersetzt und redigiert Forschungsberichte
und verfasst auch eigene Konzepte, zurzeit zum Thema ,Gewalt gegen Frauen.
Wichtiger aber war ihr zu zeigen,
was sie im Garten alles so macht, den sie übrigens ohne Gift zu pflegen
versucht. Zum Filmen war das ohnehin einfacher.
"Ich bin nicht von Peiden,
ich wohne nur hier", sagten fast alle im Dorf.
Katharina ergänzte: "Inzwischen
fühle ich mich schon ein bisschen dazugehörig."
Katharina lernte von anfang
an Romanisch. Für sie war das logisch.
"Aber es ist schwierig,
die Sprache auch zu sprechen. Man müsste insistieren! Aber alle können
so gut Deutsch!"
Seit kurzem ist sie Dirgentin
des ,Gemischten Chors von Peiden.
Viele seiner Mitglieder stammen
von hier, aber keiner wohnt mehr im Dorf, ausser Katharina.
7. Geli Capaul (01:09:43:00
- 01:11:45:00)
Geli wohnt nicht in Peiden.
Da soll ich präzise sein! Aber fast jedes Wochenende kommt er aus
Domat/Ems hier hoch, zumindest im Sommer.
Ich nannte Geli im Spass den
heimlichen Bürgermeister. Nebenbei gesagt: Peiden ist schon lange
nicht mehr selbständig. Überall, wo es etwas zu tun gibt, packt
er an. Manchmal allein, manchmal mit Ignaz. Sie nennen das ,Gemeinwerk.
"...eine Aufgabe, die
ich freiwillig mache. Ich mache es gern! Jemand muss es machen! - Ich
meine, ich mache das nicht gratis. Ich schreibe ein bisschen die Stunden
auf, verrechne aber nie alle. Das käme viel zu teuer!"
Was gibt es zu tun? Im Winter
Schnee räumen. Im Frühling Strassen reinigen. Im Sommer mähen,
Quellen und Reservoir kontrollieren, sowie Kanäle und Brunnen putzen,
damit das Dorf nicht weiter abrutscht.
Ohne Geli und Ignaz wäre
Peiden nicht so blitzblank sauber!
"Wie meine Zukunft aussieht?
- Ich weiss nicht, ob ich jemals nach Peiden ziehe. Einpaar Jährchen
muss ich noch arbeiten. Wenn ich jetzt sage, ich komme, und komme dann
doch nicht, dann sagen die Leute:
Der hat doch gesagt, er komme",
befürchtete Geli.
8) Ignaz Derungs (01:11:45:00
- 01:13:49:14)
Ignaz, gebürtig aus Vignogn,
wohnt im ehemaligen Schulhaus, das er billig kaufen konnte, zusammen mit
seiner Mutter und mit dem Herrn Pfarrer.
Schon als Junge wollte Ignaz
Lastwagenfahrer werden. Im Sommer steht er um halb sechs auf und fährt
nach Ilanz.
"Die Arbeit kommt von
mal zu mal, über's Natel. Das ist halt so! - Ich bin immer wieder
anderswo, oft im Safiental. Es spielt keine Rolle, wohin ich fahre. Hauptsache,
Arbeit ist da!"
"Das Beste an der Arbeit
ist die Kameradschaft, das ist tipptopp! Das andere muss man nehmen wie
es kommt. Also ich bin zufrieden!"
Zwischen halb sechs und halb
acht kommt Ignaz nach hause.
Kein Achtstundentag also, im
Sommer sowieso nicht.
Die Abende sind kurz! Um neun
geht Ignaz schlafen.
Unter der Woche geht er nie
in den Ausgang. Freitag, Samstag schon, sonst aber nicht.
Am Samstag arbeitet Ignaz für's
Haus, holzen zum Beispiel, oder mit Geli fürs Dorf, wie wir wissen.
"Wirst Du immer hier bleiben?"
fragte ich. "Ja. Ich hab es gut genug hier.
In der Stadt wohnen? Das könnte
ich nicht! Was willst du dort machen? Nichts!"
"Dann ist unser Gespräch
soweit fertig. Vielen Dank", sagte ich.
"Heil überstanden!"
lachte Ignaz.
9) Maria Derungs (01:13:49:14
- 01:15:47:00)
Einen Luxus hat ja Peiden:
Der Gemeindepräsident bringt die Wahlurne persönlich ins Dorf!
Man stimmte gerade über
eine frisch erfundene Sprache ab: 'Rumantsch Grischun'.
Auch an die Gemeindeversammlung
geht Maria immer. "Du musst hingehen, denn wir verstehen kein Romanisch
und wissen nicht, was läuft", sagen die Nachbarn.
Ignaz Mutter war früher
Wirtin in Peiden-Bad, unten am Glenner. Ihr Restaurant war dafür
bekannt, dass es nur einen einzigen Tag im Jahr zu hatte. Dann putzte
Maria das Haus von oben bis unten.
"Gekocht habe ich selbst.
Im Sommer ist das gut gelaufen! Wir hatten Valser-Wasser Chauffeure und
Arbeiter. Eine Speisekarte? Nein, das hatten wir nicht. Aber die Gäste
konnten wünschen. Wenn jemand etwas nicht gern hatte, habe ich etwas
anderes gekocht."
Als wir von der Fahrt mit Ignaz
zurückkamen, brannte bei Maria eine Kerze. Ueli, der Kameramann,
wollte sie ausblasen. "Mach nur. Jetzt seid Ihr ja heil zurück."
Maria ist die Messmerin von
Peiden. Sie putzt die Kirche und wäscht die Altartücher. Sie
sucht die Blumen selbst und sammelt das Geldopfer ein. Seit einigen Jahren
beherbergt sie zudem den Herrn Pfarrer.
Ich werde nie soviel gearbeitet
haben wie sie.
10. Erster August (01:15:47:00
- 01:16:26:00)
Lasst uns eine kurze Pause
machen - und feiern!
Den ,Ersten August begeht
man in Peiden ohne Redner, wie Martin befriedigt vermerkte.
Dafür mit vielerlei Grilladen!
Mir schmeckten besonders die
Würste aus Frankreich!
Vorallem die Feriengäste
waren gekommen. Und mit ihnen endlich auch Kinder.
11) Walter & Ingeborg
Harry (01:16:26:00 - 01:18:26:00)
Herr und Frau Harry waren nicht
am Dorffest.
Sie leben in stiller Nachbarschaft
mit Maria:
Wenn Maria einkaufen muss,
fährt sie Herr Harry mit dem Auto in die Stadt hinunter.
Ach so! Ich vergass ganz zu
sagen, dass kein einziges öffentliches Verkehrsmittel durch Peiden
fährt!
Die Harry's - und der Herr
Pfarrer - waren übrigens die einzigen, mit denen ich nicht per Du
war.
Seit vielen Jahren verbringen
sie hier ihren Lebensabend: Wandern, Gartenarbeit, Kreuzworträtsel,
kaum Fernsehen, dafür aber viel Lesen! Und jedes Jahr eine Reise
ans Meer.
"Einfach richtig in den
Tag hineinleben. Wir haben ja Zeit! Wir verpassen nichts."
Herr Harry war einst Ingenieur
für Klimatechnik und kam dabei um die ganze Welt. "Das war eine
schöne Zeit!" Sie lebten sogar einmal in Hongkong. "Da
würde ich sofort wieder hinfahren. Hongkong fasziniert mich! Es hat
dort einen Haufen Leute auf der Strasse. Aber dort stören sie mich
nicht", erzählten Herr und Frau Harry und lachten.
"Uns ist es nie langweilig.
Wir haben immer etwas zu tun.
Ehrlich gesagt: Wir leben zurückgezogen,
aber es ist uns vögeliwohl dabei!"
Als wir beisammen sassen, sagte
Herr Harry zu seiner Frau: "Eine Rose zwischen zwei Dornen!"
12) Roger & Andrea
Campéol (01:18:26:00 - 01:20:28:00)
Als ich Andrea und Roger zum
ersten Mal traf, sagten sie: "Mais, nous ne sommes pas des Suisses!"
Im Dorf nennt man sie einfach
die Franzosen.
Andrea sagte: "Mit Fünzig
habe ich beschlossen: Jetzt fängt das Leben an! Mein Mann war einverstanden.
Ich hörte auf, zu arbeiten und habe seither soviel geschafft wie
nie zuvor!
Bei Sedrun hatten wir einen
Hof mit 80 Ziegen, 50 Mutterschafen und einer Erdbeerplantage!"
Sie fanden heraus: Wer Tiere
gut halten will, muss wie ein Tier denken.
Die Wirtschaftslage aber wurde
schlecht. Roger ging in seinen alten Beruf zurück.
Zudem habe er es nicht ertragen,
die Lämmer und Gizzis zum Metzger zu bringen.
"Zuerst glaubte ich, man
gewöhnt sich an alles. Aber es ist jedes Jahr schlimmer geworden.
Wir hatten Streit deswegen", sagte Roger.
So kamen die beiden nach Peiden.
Seither fährt Roger wieder
nach Felsberg in die Fabrik. Ein Landwirt, ein halber, sei er trotzdem
geblieben.
"Und Du bist Feuerwehrmann!
Die Gemeinde bat Dich darum", ergänzte Andrea.
Sie füttert den letzten
Tieren ihr Gnadenbrot: "Ich hoffe nur, dass alle tot sind, wenn ich
sterbe."
Ihr beinah einziger Satz auf
Romanisch lautet: "Wir haben keine Angst vor der Arbeit!"
13) Sur Benedegt Chistell
(01:20:28:00 - 01:22:29:00)
Sicher werden viele von Euch
Sur Chistell aus Falera kennen. Seit Menschengedenken ist er Pfarrer in
der Surselva. Er las die Messe in Sumvitg, Obersaxen, Surcuolm, Flims,
Trin, Vella, Vignogn - und seit 1977 auch in Peiden. Wohnen tut er aber
erst seit 3 Jahren hier.
"Wenn ich aufstehe, habe
ich zuerst Messe, jeden Tag.
Offiziel aber nur drei Mal
pro Woche. Dann kommen Leute", sagte der Pfarrer.
"Das Klima hier ist mild,
die Kirche schön und nah! - Aber man muss kämpfen, dass man
nicht einsam wird. Die meisten Leute hier haben kaum Kontakt zur Kirche.
Man kann sie nicht mehr besuchen und reden wie früher. - Aber alle
sind recht und freundlich."
"Wenn man nach Ilanz geht,
müsste man dort Gesellschaft haben, aber meistens ist da keine. Ich
könnte jede Woche irgendwo hinfahren, nach Einsiedeln zum Beispiel.
Aber auch dort ist man allein. So hat es keinen Wert, dass man wegfährt."
"Ist die Einsamkeit..."
"Keine Verbitterung! Das
nicht!" unterbrach er mich.
"Ist die Einsamkeit nicht
ohnehin ein Merkmal der Peidener?"
"Die anderen sind zu zweit.
Sie sind nicht einsam. Aber jeder ist hier ein Dorf für sich."
14) Margretha Castelberg,
2.Teil (01:22:29:00 - 01:23:03:09)
Kehren wir zurück zum
Anfang:
Kaum hatten wir mit Filmen
begonnen, starb Margretha.
Ihr letzter Winter im Dorf
muss schlimm gewesen sein! Ganz alleine im Haus hatte sie Angst vor den
Schmerzen.
"Wie schön, wenn
Du hier gewesen wärest", sagte sie mir.
15) Ende (01:23:03:09
- 01:24:00:00)
"Was wird aus Peiden werden?"
"Vielleicht ein reines
Feriendorf", vermuteten viele, "vielleicht aber auch nicht.
Am besten es bleibt alles so, wie es ist."
Die treuen Feriengäste
von Peiden, die ihre Häuser hegen und pflegen, mögen es mir
zum Schluss verzeihen, dass sie hier kaum Erwähnung fanden.
Ich bedanke mich bei allen
fürs Mitmachen und hoffe sehr, dass Euch meine Geschichte gefallen
hat. Es ist ja so schwer, eine spannende Geschichte über alltägliche
Leute zu erzählen, ohne ihre Geheimnisse zu verraten und ohne viel
zu erfinden.
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