Die traurige Buchstabensuppe

Ein Film des Schweizer Künstlers Mattias Caduff zu einem Text von Paul Celan: "Gespräch im Gebirg"

Von Philipp Bühler

Im Juli 1959 machte sich der Dichter Paul Celan auf nach Sils-Maria im Oberengadin. Nietzsches Refugium schien ihm der rechte Ort für ein Treffen mit dem Philosophen Theodor W. Adorno, der hier auf Empfehlung Thomas Manns seinen Sommerurlaub zu verbringen pflegte. Doch Adorno erschien nicht.

Das Gespräch fand dann anderswo statt. In einem widerspenstigen Text ließ Celan zwei Juden aufeinander treffen, die kommen und gehen, sprechen und schweigen, des Nachts in den Bergen, unterm Gewölk: "Gespräch im Gebirg". Der Schweizer Künstler Mattias Caduff hat den Text gelesen und nicht recht verstanden, was er ärgerlich fand. Darum hat er sich in Sils-Maria ein Zimmer genommen, um ihn noch einmal zu lesen und mit seinen Mitteln neu zu erschaffen. An die Wand malt er den Text, er stellt ihn mit Schattenfiguren nach; und wie seine Schweizer Kollegen Fischli und Weiss baut er sich, aus der Bettdecke, ein eigenes kleines Gebirg. Ganz deutlich tut Caduff das, was er als "Bericht eines Lesers" deklarieren wird, für sich. Deshalb rezitiert er auch nicht, sondern liest laut.

Wie er da mit allem Mut zur Verschrobenheit vor sich hin werkelt, müssen wir froh sein, dabei sein zu dürfen. Nach einer Weile erscheint Caduffs eigenwilliger Zugang zu Celan auf seltsame Art als einzig richtiger. Denn Caduff nutzt die elementare Stärke des Filmessays: der abstrakte Text, nicht der Inhalt, wird durch die besondere Art der Verfilmung lebendig. Worüber wollte Celan nun mit Adorno sprechen? Durch das Ungesagte, so Adorno einmal, wollten Celans Gedichte das Entsetzen aussprechen. Das Entsetzen über Auschwitz, nach dem, laut Adornos - später partiell revidiertem - Diktum, keine Gedichte mehr möglich seien. Auschwitz, wiewohl unausgesprochen, ist aus keiner Zeile Celans wegzudenken. "Gespräch im Gebirg" macht keine Ausnahme. Es ist ein humoriges Sprachspiel über den Juden in der Welt, seine Beziehung zur Natur und zu seinesgleichen. Keine Zuschreibung, die "dem Jud" je widerfuhr, lässt Celan aus: "der ewige Jud" wandert und schwätzt, weil er "nichts eigenes" hat; "wenn der Jud daherkommt und begegnet einem zweiten, dann ist s bald vorbei mit dem Schweigen, auch im Gebirg".

Mattias Caduff trägt dem Rechnung, wandert sein Zimmer nach sorgsam geklebten Markierungen ab, verpasst seinen Schattenfiguren Hakennase, Kinnbart und Gehstab. Man würde gern lachen, aber es geht nicht. Stolz, Schmerz und Scham eines Versehrten sprechen aus diesem Text, in dem Celan, ein Schwimmer zwischen zwei Worten, flieht vor dem, was zu sagen er nicht im Stande ist. Zwei Geistesverwandte, Büchners "Lenz" und Nietzsches "Zarathustra", hat der Leser Caduff in die Erzählung eingewoben. Und als wäre es nicht genug, dass dieses Hörbuch zum Anschauen alle Arten von Literatur beinhaltet, hält er am Ende noch einen Geniestreich bereit. Da macht Caduff einen Ausflug nach Czernowitz, wo Celan die Judenvernichtung in einem Arbeitslager überlebte, und nach Paris, das ungeliebte Exil, wo Celan 1970 in die Seine ging. Es ist, als hätte Caduff das Gebilde namens "Gespräch im Gebirg" nie verlassen. Er steht auf und macht sich eine Buchstabensuppe.

erschienen am 21.09.2000 in: Berliner Zeitung

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