Lesen als Aktion

"Gespräch im Gebirg": Mattias Caduffs filmische Lektüre der Erzählung von Paul Celan

Im Juli 1959 reist Paul Celan (eigentlich Paul Ançel, deutsch Antschel), Überlebender des Holocaust aus Czernowitz in der Bukowina, Lehrer an der Ecole Normale Supérieure in Paris und Lyriker deutscher Sprache von wachsendem Ruhm, mit Frau und Kind nach Sils-Maria, um im legendären Hotel Waldhaus den Mann zu treffen, der zehn Jahre zuvor geschrieben hat: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Aber Theodor W. Adorno, der berühmte Professor aus Frankfurt, erscheint zum vereinbarten Termin nicht im Engadin, und Celan reist schon am nächsten Tag wieder ab. Zurück in Paris, schreibt er die Erzählung "Gespräch im Gebirg".

Vierzig Jahre später "begann ich eine kleine Geschichte zu lesen. Ich las und verstand nicht recht, was ich las. Das war ärgerlich!" Mit dem Nichtverstehen von Celans Text beginnt Mattias Caduffs "Bericht eines Lesers". Und er endet - sozusagen im Rückblick auf das eigene Programm - mit Celans Rat an einen ratlosen Leser: "Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst."

Diesen Rat befolgt Mattias Caduff - 1962 in Zürich geboren und nach langen Lehr- und Wanderjahren zwischen Philosophie, Bildhauerei und Architektur schliesslich als Filmemacher diplomiert an der Kunsthochschule für Medien in Köln - auf eigenste Weise. Er verdunkelt seine Wohnung, schottet sie mit schweren Vorhängen hermetisch ab gegen die Störungen der Aussenwelt und beginnt, nachdem er sich zuvor noch den Kopf gewaschen und sich sorgfältig frisiert hat, mit der Lektüre, indem er Celans Text nicht nur laut und deutlich liest, sondern ihn Wort für Wort auf die frisch geweisselten Wände - und den Weg von Wand zu Wand auf den Fussboden - pinselt. Lesen - so viel wird gleich zu Beginn des Films augenfällig - ist nicht Rezeption, ist kein passiver Vorgang, sondern Aktion: Aneignung, Ermessen, Ergehen zunächst eines Wohn- und Lebensraums, der sich zur Landschaft weitet, in diesem Fall zum Gebirg. Und der Leser ist kein Abstraktum, keine blosse Funktion seiner Lektüre, sondern ein real, alltäglich und subjektiv existierender Mensch, aufgerufen von einem Text, diesen - und das heisst letztlich: seinen Autor - aufzuspüren, ihm entgegenzugehen und mit ihm ins Gespräch zu kommen.

"Gespräch im Gebirg", der - neben den Reden - einzige längere Prosatext von Paul Celan, handelt von der zufälligen und zugleich schicksalhaften Begegnung eines Juden mit einem anderen, älteren Juden, dem "Geschwisterkind" . Die beiden führen - gegen die Stille des Gebirgs - ein Gespräch, das keines ist, keines werden kann, weil das, was sie sich zu sagen hätten, sich sagen müssten, unsagbar ist. Der Bezug zu dem verunglückten Treffen zwischen dem "um ein Viertel Judenleben ältren" philosophisch beredten Adorno, der den Dichtern nach Auschwitz Schweigen verordnet hatte, und dem gegen den Holocaust mit immer durchlässigeren "Sprachgittern" anschreibenden Celan ist deutlich. Aber weit über ihren Anlass hinaus ist Celans Erzählung eine tief verzweifelte, sich immer tiefer und unauflösbarer in sich selbst verwickelnde Paraphrase über die Grenzen der Sprache und der sprachlichen Mitteilung.

Sich einem derartigen Text und dessen Autor mit filmischen, also primär bildlichen Mitteln annähern, mit dem Nicht-Gespräch ins Gespräch kommen zu wollen, erscheint zunächst als hoffnungsloses, ja absurdes Unterfangen. Aber indem Mattias Caduff seine eigene Person, sein eigenes Mundwerk, seine buchstabenmalende Rechte und seine mit sorgsam geschnürtem Schuhwerk versehenen Füsse gleichsam textwärts in Bewegung setzt, umgeht er von allem Anfang an die Gefahr, die Celan in dem Gedicht "Bei Wein und Verlorenheit" beschrieben hat: "...sie / logen unser Gewieher / um in eine / ihrer bebilderten Sprachen." Das "Gewieher", die Nicht-Sprache oder Metasprache, sucht Caduff nicht jenseits, sondern diesseits der Sprache: er materialisiert, verkörperlicht den Text, ohne ihn je zu illustrieren. Auch wo er konkrete Textbezüge ins Bild bringt - die Blumen Türkenbund, Rapunzel, Prachtnelke etwa, den Silsersee, die Stadt Czernowitz - geschieht dies nie im Sinne einer Bebilderung oder eines Ausmalens, also einer Anreicherung des Texts, sondern gleichsam beiläufig als visuelle Fussnote. Mit diesem strikt sachlichen, sich gegen jede konventionelle Ästhetik beharrlich sperrenden Bildstil beherzigt Caduff bewusst oder unbewusst Adornos, des "Juden Gross", berühmtes Aperçu: "Das einzige, was mich am Film stört, ist das Bild."

Caduffs Film ist randvoll von literarischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen Bezügen, denen an dieser Stelle nicht nachgespürt werden kann. Die eigentliche Qualität dieses durch und durch originalen Essays liegt indessen in der Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Gedankenreichtum einbindet in eine ebenso unpathetische wie bewegende Vergegenwärtigung des Dichters Paul Celan und der Verzweiflung, die ihn, ein spätes Opfer des Holocaust, in den Freitod trieb.

© Alexander J. Seiler

erschienen zur Premiere des Films in der Programmzeitung des Filmpodiums Zürich, 26.11.2000

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