Wirklichkeit?
Wahnsinn!
Spuren
lesen: zur 26. Duisburger Dokumentarfilmwoche
Von Silvia Hallensleben
In der Filmtheorie gilt die Frage nach der Authentizität des Abgebildeten
schon lange als Ausweis unverbesserlicher Naivität. Im populären
Umgang mit medialen Bildern jedoch wird sie immer noch gerne als Qualitätskriterium
bemüht. Gerade bei den um solche Qualität ringenden Programmplanern
des Fernsehens zählt das Authentische zu den Werten, die es im Wettstreit
der Formate zu befördern heißt. Denn ist die neue Lust am Dokumentarischen
nicht auch Reflex einer Sehnsucht nach dem unverstellten Ausdruck von Wirklichkeit?
Wie funktioniert
Authentizität eigentlich? Nach welchen Regeln wird sie hergestellt?
Fragen, die aufs Fernsehen gemünzt einer Sonderreihe
der diesjährigen Duisburger Dokumentarfilmwoche zu Grunde lagen. Denn
das Authentische, ursprünglich ein bürgerlicher Kampfbegriff aus
dem 18. Jahrhundert, ist in seinen Formen immer noch wandelbar. Dabei ist
auffällig, dass die Ansprüche an die Echtheitsgarantie der Bilder
und Töne steigen, je skeptischer die Medien sich selbst gegenüber
geworden sind. Wo das pure Bild nichts mehr gilt, muss der Mensch selbst
ran. So macht der Filmwissenschaftler Rainer Vowe seit Anfang der Neunziger
einen Trend aus, der die filmische Enthüllung durch individuelle Selbstoffenbarungen
als Authentizitätsstrategie ersetzt und in Guido Knopps Zeitzeugen-Opern
mündet. Das Geständnis anstelle des Kommentars: Zeugenschaft als
oberste Wahrheitsinstanz. Schließlich ist jeder Radio-Anderthalbminüter
heute zum O-Ton verpflichtet.
Kein Wunder, dass es zwischen Fernsehpraxis und Filmwissenschaft nicht zum
Dialog kam. Doch ansonsten regierte auch bei der 26. Ausgabe des bedeutendsten
Forums für den deutschsprachigen Dokumentarfilm das lebendige und streitbare
Wort. Neben den Filmen selbstverständlich, die diesmal sehr viel privater
daherkamen als letztes Jahr. Die Frage nach dem Erkenntniswert persönlicher
Erfahrung drängte sich auch hier auf und wurde sehr unterschiedlich
beantwortet: Katrin Eißing inszeniert in Auf demselben Planeten
die eigene Leidensgeschichte als bildungsbürgerliches Familiendrama:
Vorwürfe und blinde Flecken, Süchte und Ausflüchte, eine
höchst ambivalente Vaterfigur und eine hilflose Mutter. Auch die Filmemacherin
agiert distanz- und hilflos in der Doppelrolle als Betroffene und Therapeutin.
Man mag ihr gerne glauben, dass es ihr nach dieser Aufräumarbeit
besser geht, doch warum sollte uns diese Geschichte interessieren? Irritierend
auch der Begriff von Normalität, der unausgesprochen Ästhetik
und Dramaturgie des Films grundiert.
Ähnlich und doch ganz anders ein agitatorischer Film, der Therapie
nicht ersetzen will, doch auf ihre Mühen und ihre Arbeitsweise aufbaut.
In Maria Arlamovskys Laut und deutlich berichten fünf Frauen
und ein Mann über ihre Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch in der
Familie. Hier ist Zeugenschaft auf die Grundkonstellation reduziert. Auf
der einen Seite die Kamera, auf der anderen die nüchtern auskunftgebenden
Opfer. Deren Wort zählt, sonst nichts. Während Laut und
deutlich sich fast fundamentalistisch auf die Glaubwürdigkeit
seiner Zeugen verlässt, interessiert sich schlittenschenken
von Erwin Michelberger und Oleg Tscherny erstmal für die Ungewissheiten
der Rekonstruktion. Behutsam wird aus vielen Schnipseln ein Bild der unter
mysteriösen Umständen ermordeten Schriftstellerin Renate Neumann
entworfen. Die Frage nach den Todesumständen bleibt offen, auch sonst
ist das notwendig Fragmentarische solcher Annäherungsversuche immer
mitgedacht. Für seine vorsichtigen Deutungsangebote wurde schlittenschenken
mit dem Arte-Preis für den besten deutschen Dokumentarfilm ausgezeichnet.
Viel breitspuriger
macht sich Nikolaus Geyrhalter mit seiner filmischen Weltreise Elsewhere
der Wirklichkeit auf die Spur: Exakt ein Jahr lang ist der Filmemacher zur
Jahrtausendwende um die Welt gereist, zu indigenen Völkern außerhalb
der Städte. Einen Ort pro Monat hat er besucht, das Ergebnis zu zwölf
Episoden von insgesamt vier Stunden Länge zusammengeschnitten. Logistisch
eine Wahnsinnstour. Filmisch ein strukturalistischer Rundumschlag, der exotische
Reize naturgemäß reichlich bietet und seine Protagonisten mit
Lust in Zeit und Raum platziert. Aufkommender Ethno-Romantik wird aber schon
durch die Realitäten entgegengesteuert: Gerade die scheinbar entlegensten
Welten werden von den industriellen Zentren als Labor und Müllabladeplatz
missbraucht. Der sibirische Rentier-Hirte und Fischer muss mit dem Helikopter
vor der zunehmenden Ölverseuchung fliehen. Und die Südseeinsulaner
von Falalap werden zu Weihnachten mit einem abgeworfenen Christmas
Drop aus abgetragener Erste-Welt-Kleidung und anderem Zivilisations-Müll
beglückt.
Auch der Filmemacher Peter Mettler geht auf Weltreise, auf die Suche nach
der Suche nach dem Sinn. Eine transzendentale Reise, die zum Glück
immer auch beim Konkreten bleibt: drei Stunden nüchterne Bestandsaufnahme
und gleichzeitig die Hingabe an eine suggestive audiovisuelle Symbiose unterschiedlichster
Welten. Delirierende Christen und Drogenkonsumenten, Naturschönheit
und einstürzende Hotelfassaden, Las Vegas und Indien Gamblin,
Gods and LSD. Der 3sat-Jury war diese schweizerisch-kanadische Koproduktion
den Preis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm wert
obwohl kaum deutsch gesprochen wird.
Große Filmerlebnisse. Doch es war ein kleiner, unprämierter Film
aus der Provinz, der die Frage nach dem Authentischen am intelligentesten
inszenierte. Peiden heißt das halbstündige Stückchen,
in dem der Schweizer Regisseur Mattias Caduff seinen Bündner Bürgerort
mitsamt allen zwölf Bewohnern porträtiert, ausgenommen nur die
Feriengäste, bei denen sich der Filmemacher für diese Missachtung
entschuldigt. Eine Auftragsarbeit. Caduff schert sich nicht ums Unverstellte,
er liest seinen Text wie einen Schulaufsatz vom Blatt ab, eine durchlaufende
Erzählung, die auch die authentischen Stimmen der Dorfbewohner interpretierend
überlegt. Echtheit im Kino ist immer gekünstelte Illusion. Warum
dann die Kunstanstrengung nicht auch als solche präsentieren? Kein
O-Ton, nirgends. Die Wahrheit ist nicht vor Ort, sondern irgendwo dazwischen.
erschienen am 12.11.2002 in:
Der Tagesspiegel (Berlin)
2002 ©
Verlag Der Tagesspiegel GmbH
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